Patrick Schmid
Reorganisationen
Workshop von Patrick Schmid anlässlich des ISIS)-Seminars vom 05. Februar 2025 mit dem Titel «Reorganisationen»
Fall 1: Reorganisation nach Unternehmenserwerb
1. Sachverhalt1
Die A. AG ist in Zürich ansässig und bezweckt die Entwicklung und den Vertrieb von spezialisierten Softwareprodukten. Die A. AG wurde im Juni 2011 vom US-amerikanischen Unternehmen D. Inc. übernommen. Hierzu erwarb eine zu diesem Zweck gegründete Akquisitionsgesellschaft (AcquiCo) sämtliche Aktien an der A. AG für EUR 87 Mio. (=CHF 104.835 Mio.). Gleichentags schloss die A. AG mit der D. Schweiz AG zwei Verträge ab, in denen sie sich einerseits zur Erbringung von allgemeinen und administrativen Dienstleistungen (HR, Payroll, IT, Finance / Accounting) und andererseits zur Forschung und Entwicklung verpflichtete.
Per 30. September 2011 verkaufte die A. AG sämtliche Immaterialgüterrecht (für EUR 11.81 Mio.) und "Non-Viral Contracts" (für EUR 1.90 Mio.) an die D. Company, eine irische Gesellschaft mit steuerlichem Sitz auf einer Karibikinsel. Gesamter Kaufpreis hierfür war umgerechnet ca. CHF 16.5 Mio. Gleichzeitig wird das Personal der A. AG von 117 auf 76 Stellen reduziert. Per 1. Oktober 2011 verkaufte die A. AG das ihr noch verbliebene Betriebsvermögen auf die D. Schweiz AG. Weil die übertragenen Vermögenswerte buchmässig einen Passivenüberschuss aufwiesen, entrichtete die A. AG an die D. Schweiz AG eine Entschädigung von CHF 1.3 Mio. Kurz darauf publiziert die US SEC das Form 10-K der D. Inc. (inkl. PPA betreffend A. AG in USD). Nach dem 1. Oktober 2011 verfügte die A. AG weder über eine erkennbare operative Tätigkeit noch über personelle Substanz.

Das kantonale Steueramt erkannte mehrere verdeckte Gewinnausschüttungen und nahm im Rahmen von Einschätzungsentscheiden folgende Aufrechnungen vor:

Fragen
- Was ist unter dem Begriff "Funktion" zu verstehen?
- Was sind die Rechtsgrundlagen zur Besteuerung von verdeckten Gewinnausschüttungen in Form von Funktionsverlagerungen?
- Wie ist der Wert des übertragenen Ertragspotenzials zu ermitteln?
Fall 2: Zentralisierung von Funktionen mit Funktionsabschmelzung
1. Sachverhalt2
Die Agri BV ist eine niederländische Tochtergesellschaft eines internationalen Konzerns mit Hauptsitz in den USA, der in der Verarbeitung landwirtschaftlicher Produkte tätig ist. Gemeinsam mit ihren niederländischen Tochtergesellschaften (insbesondere NL A. BV und NL B. BV) bildet die Agri BV eine Steuergruppe nach niederländischem Steuerrecht.
Im Jahr 2007 wurde entschieden die operativen Tätigkeiten in Europa und Afrika neu zu organisieren. Angestrebt wurde unter anderem eine Zentralisierung von Funktionen (wie Einkauf und Produktionsplanung) sowie des Lager- und Debitorenrisikos (und damit des Kapitalbedarfs der verschiedenen Gesellschaften innerhalb der Gruppe). Neu fungieren die europäischen und afrikanischen Produktionsstandorte als sogenannte "Lohnhersteller" und stellen ihre Produktionsanlagen gegen Entgelt zur Verfügung. Die Funktionen im Zusammenhang mit der Produktion (z.B. Einkauf der Rohstoffe, Verkauf, Hedging, Logistik- und Finanzplanung) sollen neu zentral in einer Schweizer Gesellschaft (CH GmbH) ausgeübt werden, die 2007 gegründet wurde.

Eine Funktionsanalyse der beteiligten Unternehmen vor und nach der Umstrukturierung präsentierte sich wie folgt:

Für das Steuerjahr 2009/2010 deklarierte die Agri BV einen steuerbaren Gewinn von ca. EUR 35 Mio. Das zuständige niederländische Steueramt wich davon ab und legte den steuerbaren Gewinn auf ca. EUR 353 Mio. fest, unter Berücksichtigung eines Veräusserungsgewinns von EUR 320 Mio.
Fragen
- Wurde im Rahmen der Umstrukturierung etwas Zusätzliches auf die CH GmbH übertragen?
- Falls neben den verkauften Aktiven und Passiven weitere Vermögenswerte übertragen wurde, wie sind diese zu bewerten?
- Wie wäre der Sachverhalt unter Schweizer Steuerrecht zu beurteilen?
Fall 3: Zentralisierung von Funktionen ohne Funktionsabschmelzung
1. Sachverhalt3
Die A. AG mit Sitz in Deutschland ist international eingebunden in die A.-Gruppe. Konzernobergesellschaft ist die in den USA ansässige A. Inc. Sie hält indirekt 100% der Anteile an der B. mit Sitz in den USA und an der A. AG. B. ist Eigentümerin sämtlicher immaterieller Vermögenswerte (insbesondere Patente, Designs und Marken), welche die A. AG für ihre Produktion und ihren Vertrieb benötigt. Die A. AG stellte Produkte unter Nutzung der von B. überlassenen Lizenz und vertrieb sie in eigenem Namen und auf eigene Rechnung an Dritte auf dem deutschen Markt. Ausserdem übte die A. AG die Funktion der Lagerhaltung und Logistik aus, kaufte Hilfs- und Betriebsstoffe (Energie, Büromaterial sowie einzelne Materialien für die Produktion).
Die für die Produktion und den Vertrieb benötigten immateriellen Vermögenswerte stellte die B. der A. AG mittels eines nicht exklusiven Lizenzvertrages zur Verfügung. Dessen Laufzeit dauerte bis zum 1. Januar 2013, und verlängerte sich bei Nichtkündigung um ein weiteres Jahr. Der Lizenzgegenstand umfasste sämtliche Betriebsbereiche der A. AG, d.h. sowohl Produktion als auch Vertrieb. Als Gegenleistung zahlte die A. AG eine Lizenzgebühr in Höhe von X% ihrer Nettoumsätze an die B. Die A. AG verfügte demgegenüber über keine eigenen immateriellen Vermögenswerte dieser Art. Sie war grundsätzlich auch nicht an der Entwicklung der immateriellen Vermögenswerte beteiligt.
Die wesentlichen strategischen Entscheidungen hinsichtlich der Produktion und des Vertriebs der A. AG traf die französische C., bei der das Management der europäischen A.-Gruppe angestellt war. Im Einzelnen war C. verantwortlich für z.B. die Festlegung der Unternehmensstrategie, die Entscheidung über Investitionen und Produktportfolios der A. AG, die mittel- und langfristige Produktions- und Kapazitätsplanung sowie die zentrale Verhandlung der europaweiten Beschaffungsverträge mit den Rohstofflieferanten und die Betreuung der Grosskunden.
Per 1. Januar 2011 wurde der Geschäftsmodell der A.-Gruppe umgestellt und es wurde eine europaweite Prinzipalstruktur etabliert, mit der in der Schweiz ansässigen E. als Prinzipal. E. beauftragt Auftragsfertiger mit der Herstellung der Produkte und liefert die Produkte an risikoarme Vertriebsgesellschaften (Limited Risk Distributor), die die Produkte auf ihrem jeweiligen Markt vertreiben. Die bisher von C. ausgeübten Funktionen wurden von E. übernommen (z.B. mittel- und langfristige Produktionsplanung, Produktportfolio, Richtlinien für die Produktion sowie Qualität und Sicherheit). A. AG war entsprechend ab dem 1. Januar 2011 als Auftragsfertiger für E. tätig und übernahm, im Wesentlichen wie zuvor, die konkrete Herstellung, die kurzfristige Produktionsplanung, Fracht und Logistik sowie Lagerhaltung). Hierfür entschädigte E. die A. AG auf Basis der Kostenaufschlagsmethode.
Der Vertrieb der Produkte auf dem deutschen Markt erfolgte ab dem 1. Januar 2011 weiterhin über die A. AG, welche die Produkte von der E. erwarb und sie in eigenem Namen und auf eigene Rechnung an die deutschen Kunden weiterverkaufte. Hierfür entschädigte E. die A. AG auf Basis der geschäftsfallbezogenen Nettomargenmethode (TNMM).
Das Eigentum an den immateriellen Vermögenswerten blieb wie zuvor bei der B. und die A. AG übertrug keine materiellen oder immateriellen Vermögenswerte an die E. (oder eine andere Konzerngesellschaft). Insbesondere verblieben sämtliche Anlagen, Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffe, die auf Lager liegenden Fertigprodukte sowie der lokale Kundenstamm bei der A. AG.
E. schloss per 1. Januar 2011 einen Lizenzvertrag mit B., der im Wesentlichen dem zuvor mit der A. AG abgeschlossenen Lizenzvertrag entsprach und darüber hinaus ein Unterlizenzrecht enthielt. Entsprechend erteilte E. der A. AG eine Unterlizenz und B. kündigte der A. AG den bestehenden Lizenzvertrag zum Ende der Grundlaufzeit zum 1. Januar 2013. Die A. AG wurde seit dem 1. Januar 2011 von der Entrichtung der Lizenzgebühren aus ihrem eigenen Vertrag mit B. freigestellt. Um zu berücksichtigen, dass die A. AG die immateriellen Vermögenswerte für den Zeitraum vom 1. Januar 2011 bis 1. Januar 2013 auch (noch) aus dem eigenen Lizenzvertrag mit der B. hätte nutzen können, die E. ab seit der Umstrukturierung sämtliche Geschäftsrisiken trug, vereinbarten E. und die A. AG, dass 1/3 des Gewinns der A. AG und 2/3 der E. zustehe, etwaige Verluste aber vollständig durch die E. zu tragen seien.
E.kompensierte die A.AG zudem für die durch die Teilnahme an der Prinzipalstruktur ausgelösten Gewinnminderungen basierend auf einem Vergleich der Gewinnsituation mit und ohne Teilnahme an der Prinzipalstruktur. Dabei wurden die zwei Bereiche Produktion und Vertrieb getrennt bewertet. Der Produktionsbereich wurde unter Berücksichtigung eines 2-jährigen Kapitalisierungszeitraums bewertet (wegen dem gekündigten Lizenzvertrag) und der Vertriebsbereich mit einem 5-jährigen Kapitalisierungszeitraum, um pauschalierend dem lokalen Kundenstamm Rechnung zu tragen.

Fragen
- Wurden Vermögenswerte von A. AG auf E. übertragen, die nicht ausreichend entschädigt wurden?
- Wie ist die Entschädigung für die frühzeitige Auflösung des bestehenden Lizenzvertrags zu ermitteln?
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1 Sachverhalt und Erwägungen gemäss VGer, SB.2022.00060 vom 4.10.2023.
2 Sachverhalt und Erwägungen gemäss Gerechtshof Amsterdam, 22/2419 vom 11.07.2024.
3 Sachverhalt basierend auf Finanzgericht Niedersachsen, 10 K 117/20 vom 3.8.2023.