Corinne Scagnet
Zu den Voraussetzungen für einen Steuererlass gemäss Art. 92 Abs. 1 lit. a MWSTG
Die Frage, ob bzw. unter welchen Voraussetzungen Steuerpflichtigen bei der Inland- und Bezugsteuer ein Steuererlass gewährt werden kann, wird seit Einführung der MWST 1995 diskutiert. Unter dem bis zum 31.12.1999 geltenden aMWSTG wurde zum ersten Mal die Möglichkeit eines Steuererlasses geschaffen, dies allerdings nur sehr eingeschränkt im Rahmen eines gerichtlichen Nachlassverfahrens (Art. 51 aMWSTG). Seit Inkrafttreten des totalrevidierten MWSTGs am 1. Januar 2010 (MWSTG) bestehen mit Art. 92 MWSTG neue, erweiterte Möglichkeiten zum Erlass der MWST, welche jedoch weiterhin an bestimmte Bedingungen geknüpft sind. Das letztinstanzliche Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (BVGer) A-361/2017 vom 30. Oktober 2018 gewährt der steuerpflichtigen Person den Steuererlass für die Perioden ab dem 1.1.2010 und enthält bemerkenswerte Ausführungen zur Entschuldbarkeit eines Irrtums im Sinne von Art. 92 Abs. 1 lit. a MWSTG.
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Die Frage, ob bzw. unter welchen Voraussetzungen Steuerpflichtigen bei der Inland- und Bezugsteuer ein Steuererlass gewährt werden kann, wird seit Einführung der MWST 1995 diskutiert. Unter dem bis zum 31.12.1999 geltenden aMWSTG wurde zum ersten Mal die Möglichkeit eines Steuererlasses geschaffen, dies allerdings nur sehr eingeschränkt im Rahmen eines gerichtlichen Nachlassverfahrens (Art. 51 aMWSTG). Seit Inkrafttreten des totalrevidierten MWSTGs am 1. Januar 2010 (MWSTG) bestehen mit Art. 92 MWSTG neue, erweiterte Möglichkeiten zum Erlass der MWST, welche jedoch weiterhin an bestimmte Bedingungen geknüpft sind. Das letztinstanzliche Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (BVGer) A-361/2017 vom 30. Oktober 2018 gewährt der steuerpflichtigen Person den Steuererlass für die Perioden ab dem 1.1.2010 und enthält bemerkenswerte Ausführungen zur Entschuldbarkeit eines Irrtums im Sinne von Art. 92 Abs. 1 lit. a MWSTG.
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1. Sachverhalt
Die Escort GmbH (Beschwerdeführerin [BF]) mit Sitz in Genf betreibt seit 2002 einen Begleitservice, vornehmlich für Kunden mit Wohnsitz im Ausland.
Im Juli 2012 führte die ESTV, HA MWST, (ESTV) bei der BF eine Kontrolle durch betreffend die Steuerperioden 2007 bis 2011. Dabei stellte sich die ESTV auf den Standpunkt, die BF erfülle die Voraussetzungen für die obligatorische Steuerpflicht seit dem 1. Januar 2007, was zu einer rückwirkenden Registrierung im MWST-Register und einer Aufrechnung von CHF 193’765 für die Steuerperioden 2007 bis 2009, resp. von CHF 115’066 für die Steuerperioden 2010 und 2011 führte. Die ESTV begründete dies wie folgt:
- Entgegen der sozialversicherungsrechtlichen Qualifikation erachtete die ESTV die Begleiterinnen, welche für die BF tätig waren, aus mehrwertsteuerlicher Sicht nicht als selbstständig, sondern vielmehr als unselbstständig erwerbend. In der Folge ordnete sie die Einkünfte der Begleiterinnen mehrwertsteuerlich der BF zu.
- Zudem hielt die ESTV fest, dass die erbrachten Begleitservices am Sitz der Leistungserbringerin, d.h. vorliegend bei der BF in Genf, zu besteuern seien (Art. 14 Abs. 1 aMWSTG bzw. Art. 8 Abs. 2 lit. a MWSTG).
Sowohl das BVGer (Urteile A-786/2013 und A-777/2013) wie auch das Bundesgericht (Urteil 2C_850_2014) schützten die Auffassung der ESTV. Somit liegt betreffend die strittigen Forderungen ein rechtskräftiges Urteil vor.
Im Juni 2016 gelangte die BF erneut an die ESTV mit dem Gesuch um Erlass der Steuerforderungen sowie der geschuldeten Verzugszinsen basierend auf Art. 92 Abs 1 MWSTG. Betreffend die Steuerperioden 2007 bis 2009 trat die ESTV auf das Begehren nicht ein, während sie das Gesuch für die Steuerperioden 2010 bis 2011 ablehnte. Die BF gelangte mit Beschwerde gemäss Art. 92 Abs. 3 MWSTG an das Bundesverwaltungsgericht (BVGer), welches die Beschwerde mit Urteil A-361/2017 vom 30. Oktober 2018 teilweise guthiess.
2. Steuerperioden 2007 bis 2009: Rückwirkende Anwendung des neuen Rechts?
Die erweiterten Möglichkeiten für einen Steuererlass traten am 1. Januar 2010 in Kraft. Betreffend die Steuerperioden 2007 bis 2009 wäre es für die BF daher vorteilhaft, wenn diese bereits auf Steuerforderungen anwendbar wären, die vor 2010 entstanden sind.
Exkurs: Interessant hierbei ist, dass der Entwurf zum neuen MWSTG unter Art. 112 Abs. 3 E-MWSTG zum anwendbaren Recht noch vorgesehen hatte, dass die Bestimmungen zum Steuererlass auch auf Forderungen anwendbar sein sollen, die vor dem Inkrafttreten des Gesetzes entstanden sind. Die ESTV als Vorinstanz hatte sich in ihren angefochtenen Entscheiden auf eine Stelle in der Botschaft des Bundesrates zur Vereinfachung der MWST zu Art. 112 Abs. 3 E-MWSTG gestützt01 und wandte daher Art. 92 MWSTG rückwirkend auch auf die Steuerperioden 2007 bis 2009 an. Sie lehnte einen Steuererlass jedoch mit der Begründung ab, die Voraussetzungen von Art. 92 MWSTG seien nicht erfüllt. Da in der definitiven Version des MWSTG der Artikel zum anwendbaren Recht (Art. 113 MWSTG) vollständig umformuliert worden war und die Rückwirkungsbestimmung von Art. 112 Abs. 3 E-MWSTG nicht mehr enthielt, erachtet es das BVGer nicht als zielführend, die Argumentation aus der Botschaft anzuwenden (Urteil A-3469/2010 vom 15. April 2011, E.2.2.4).
Grundsätzlich bleiben die bisherigen Gesetzesbestimmungen auf alle vor dem Inkrafttreten des Gesetzes entstanden Tatschen bzw. Rechtsverhältnisse anwendbar (Art. 112 MWSTG). Hingegen ist – unter Vorbehalt von Art. 91 MWSTG zur Bezugsverjährung – das neue Verfahrensrecht auf sämtliche Verfahren anwendbar, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens noch hängig sind. Gemäss Praxis des BVGer ist diese Bestimmung insofern eng auszulegen, als sie ausschliesslich auf reines Verfahrensrecht anwendbar ist, da dies sonst zu einer verbotenen Rückwirkung materiellen Rechts führt. Die Bestimmungen von Art. 92 MWSTG betreffend den Steuererlass wurden in einem früheren Urteil vom BVGer nicht als rein verfahrensrechtlich eingestuft (Urteil A-3469/2010 vom 15. April 2011, E 2.2). Das BVGer stützt seine Argumentation auf die Rechtsprechung von Bundesgericht und BVGer zum Erlass von Zöllen und MWST bei der Einfuhr im Zusammenhang mit der Einführung des neuen Zollgesetzes 2007 bzw. des neuen MWSTG 2010, die sämtliche die Regelungen zum Steuererlass als zum materiellen Recht gehörend beurteilten. Somit ist vorliegend für die Beurteilung eines möglichen Steuererlasses für die Steuerperioden 2007 bis 2009 die Regelung von Art. 51 aMWSTG anzuwenden.
Da unter Art. 51 aMWSTG ein Steuererlass nur im Rahmen eines gerichtlichen Nachlassverfahrens möglich war, lehnt das BVGer im vorliegenden Fall einen Steuererlass für die Steuerperioden 2007 bis 2009 ab (E. 6.2).
3. Steuerperioden 2010 bis 2011
3.1. Voraussetzungen für einen Steuererlass gemäss Art. 92 Abs. 1 lit. a MWSTG
Für Steuerforderungen, die ab dem 1. Januar 2010 entstanden sind, ist das neue MWSTG und somit dessen Art. 92 zum Steuererlass anwendbar. Im vorliegenden Fall wäre die Gewährung eines Steuererlasses einzig aufgrund von Art. 92 Abs. 1 lit. a MWSTG (entschuldbarer Grund) denkbar. Hierfür müssten folgende Voraussetzungen gegeben sein:
- Die MWST wurde weder in Rechnung gestellt noch eingezogen;
- dies geschah aus einem entschuldbaren Grund. Gemäss Botschaft zum MWSTG (BBl 2008 6885, 7013) ist dies dann der Fall, wenn die steuerpflichtige Person sich betreffend die Steuerpflicht in einem Irrtum befunden hat und eine andere Person unter gleichen Voraussetzungen gleich gehandelt hätte;
- eine nachträgliche Überwälzung der Steuer ist nicht möglich oder nicht zumutbar;
- die Bezahlung der Steuer würde eine grosse Härte bedeuten;
- schliesslich und als Grundvoraussetzung muss eine rechtskräftig festgesetzte Steuerforderung vorliegen.
Vorliegend ist erstellt, dass 1) die MWST weder in Rechnung gestellt noch abgeliefert wurde, 2) dies aus einem Irrtum (und nicht vorsätzlich) geschah, und dass 3) aufgrund des Urteils des Bundesgerichts 2C_850_2014 eine rechtskräftig festgesetzte Steuerforderung vorliegt.
Die BF bzw. ihre Begleiterinnen haben viele verschiedene und auch unregelmässige Kunden, häufig mit Wohnsitz im Ausland, die regelmässig mit Bargeld bezahlen. Angesichts dieser Konstellation erachtet das BVGer eine nachträgliche Überwälzung der MWST als nicht möglich bzw. nicht zumutbar (E 6.2.5).
3.2. Wann ist ein Irrtum entschuldbar?
In seinem Kernbereich setzt sich das Urteil des BVGer mit der Frage auseinander, ob der Irrtum der BF entschuldbar war.
Auch wenn die MWST seit 2010 nicht mehr als eine reine, sondern als eine modifizierte Selbstveranlagungssteuer ausgestaltet ist, stellt sie immer noch hohe Anforderungen an die Kenntnisse der (potenziell) steuerpflichtigen Person: Diese soll Gesetz, Verordnung und Verwaltungspraxis, ja sogar die höchstrichterliche Rechtsprechung02 kennen und sich betreffend entsprechende Änderungen auf dem Laufenden halten. Der Grundsatz, dass die Unkenntnis der Rechtslage nicht vor deren Folgen schützt, ist im MWST-Recht daher besonders ausgeprägt, bezieht sich laut BVGer jedoch vor allem auf das Bestehen der Steuerforderung: Eine Steuerforderung existiert unabhängig davon, ob eine steuerpflichtige Person von der entsprechenden Rechtsgrundlage Kenntnis hat. Würden, sagt das BVGer, dieselben strengen Kriterien auch auf die Entschuldbarkeit eines Irrtums im Falle eines Steuererlasses angewendet, könnte ein solcher Irrtum nie angenommen werden und Art. 92 Abs. 1 lit. a MWSTG wäre bedeutungslos (E 6.2.6.2).
Nach der Analyse der in den Jahren 2010 und 2011 geltenden Rechtslage, insbesondere auch von Urteilen des Bundesgerichts zu Erotikstudios und Massagesalons in Bezug auf die Abgrenzung zwischen selbstständiger und unselbstständiger Tätigkeit, kommt das BVGer zum Schluss, die Urteile seien zweifellos relevant für die Klärung der Frage, ob eine Steuerforderung bestehe. Diese Frage sei jedoch bereits rechtskräftig geklärt worden, weshalb sie im vorliegenden Verfahren nicht mehr erörtert werden könne. Betreffend die Frage, ob ein entschuldbarer Irrtum gemäss Art. 92 Abs. 1 lit. a MWSTG vorliege, könnten diese Urteile der BF nicht ohne weiteres entgegengehalten werden, da diese mit ihren Begleitservices in einem anderen Umfeld tätig sei und die Situation mithin nicht genügend vergleichbar sei (E 6.2.6.1).
Als Antwort auf das Vorbringen der ESTV, die BF hätte die publizierte Rechtsprechung verfolgen müssen, analysiert das BVGer die in Merkblatt 02, Ziff. 1.1 (französische Version) festgehaltenen Ausführungen zur (un)selbstständigen Tätigkeit:
- Version publiziert am 1. Januar 2010: „Si une activité est qualifiée d’indépendante par les administrations de sécurité sociale (AVS) ou par d’autres autorités fiscales (impôt sur le revenu), cela s’applique également pour la TVA.”
- Version publiziert am 10. Oktober 2013: “C’est la raison pour laquelle la qualification retenue par les autorités correspondantes constitue un indice déterminant pour l’appréciation du point de vue de la TVA.”
Das BVGer hält fest, dass beide Versionen der publizierten Praxis die höchstrichterliche Praxis nicht korrekt reflektierten, hielte diese doch fest dass «… le statut au plan des assurances sociales et en matière d’impôts directs constitue un indice, mais n’est pas déterminant à lui seul…». Wenn nicht einmal die ESTV als Vollzugsorgan für die MWST im Stande sei, die höchstrichterliche Praxis korrekt in die publizierte Verwaltungspraxis zu überführen, könne von der BF die korrekte Anwendung dieser richterlichen Praxis nicht verlangt werden (E 6.2.6.5). Obwohl es in den Augen des BVGer undenkbar (‘pas concevable’) ist, dass aus einer falschen Weisung der ESTV automatisch ein entschuldbarer Irrtum folgt, liessen die vorliegenden ausserordentlichen Umstände keinen anderen Schluss als die Annahme eines entschuldbaren Irrtums zu.
Die Argumentation der ESTV, auf ihrer Homepage befinde sich ein Hinweis, wonach sich die steuerpflichtigen Personen bei einer «incertitude relative» betreffend die steuerliche Würdigung eines Geschäftsfalles an die ESTV wenden solle, was per se die Annahme eines entschuldbaren Grundes ausschliesse, weist das BVGer mit grosser Schärfe zurück: Die Formulierung der vorzitierten schriftlichen Praxis der ESTV lasse keinen Raum für eine «gewisse Unsicherheit», der Argumentation der ESTV fehle es daher an grundlegender Kohärenz (E 6.2.6.5).03
Das Vorliegen einer besonderen Härte wurde vom BVGer ebenfalls bejaht mit der Begründung, dass, sollten sowohl die Steuerforderung der Periode 1 als auch diejenige der Periode 2 beglichen werden müssen, die Gesellschaft überschuldet (Art. 725 OR) und somit ihre Existenz bedroht wäre. Auch wenn nur die Steuerforderung der Periode 2 berücksichtigt wird, stelle diese immer noch eine substantielle Bedrohung für die Gesellschaft dar.
Gestützt darauf hat das BVGer der BF für die Periode 2010 und 2011 einen Steuererlass gewährt. Entscheide über Stundung und Erlass von Steuerforderungen können nicht ans Bundesgericht weitergezogen werden (Art. 83 lit. m BGG), weshalb das BVGer vorliegend endgültig entschieden hat.
4. Würdigung des Urteils
Das hier besprochene Urteil ist einer der wenigen, wenn nicht der einzige gerichtlich beurteilte Fall, in welchem die Voraussetzungen für einen Steuererlass gemäss Art. 92 Abs. 1 lit. a MWSTG erfreulicherweise als erfüllt erachtet werden. Nachfolgend sollen einige Aspekte dieses Urteils näher beleuchtet werden.
4.1. Ignorantia iuris nocet – in unterschiedlicher Gewichtung
Geht es um das Bestehen der Steuerforderung, stehen das Legalitätsprinzip und der Grundsatz der Gleichbehandlung aller Steuerpflichtigen im Vordergrund. Der Grundsatz, dass Rechtsunkenntnis schadet, dient hier als objektives Kriterium: Weiss eine steuerpflichtige Person nicht um ihre Steuerpflicht, hat dies grundsätzlich, d.h. mit Ausnahme von Fällen des Vertrauensschutzes, keinen Einfluss auf das Bestehen der Steuerforderung.
Das Konzept des entschuldbaren Irrtums gemäss Art. 92 Abs. 1 lit. a MWSTG enthält per se eine wenn auch nicht ausschliesslich subjektive Komponente, indem Entschuldbarkeit dann angenommen wird, wenn auch andere Personen unter gleichen Voraussetzungen gleich gehandelt hätten. Das Legalitäts- und das Gleichbehandlungsprinzip treten hier also zugunsten der stärkeren Gewichtung des subjektiven Aspektes zurück. Wäre dies nicht der Fall und würde bei der Frage, ob ein Steuererlass gewährt werden kann, dasselbe Kriterium wie bei der Frage des Bestehens der Steuerforderung angewendet, wäre Art. 92 Abs. 1 lit. a MWSTG obsolet, was offensichtlich nicht im Sinne des Gesetzgebers war.
4.2. Welche Kenntnisse können von einer steuerpflichtigen Person verlangt werden?
Nach Prüfen der verschiedenen höchstrichterlichen Urteile zu Erotikstudios und Massagesalons kommt das BVGer zum Schluss, dass diese der BF im Zusammenhang mit der Entschuldbarkeit ihres Irrtums nicht entgegengehalten werden könnten, da sie sich auf einen anderen Kontext beziehen. Diese Ausführungen des BVGer erscheinen schon deshalb nicht schlüssig, als es auch höchstrichterliche Urteile gibt, die sich ausdrücklich mit Begleitservices befassen. Somit hätte das BVGer bei seiner Analyse auch diese Urteile miteinbeziehen müssen.04 Zudem handelt es sich immerhin um Etablissements, die im weitesten Sinne sexuelle Dienstleistungen anbieten und nach ähnlichen Prinzipien operieren.
Vor allem aber erweist sich vorstehendes Argument als unnötig, da gemäss BVGer von der BF nicht verlangt werden kann, eine höchstrichterliche Praxis zu kennen, welche von der ESTV in ihrer schriftlichen Praxis nicht korrekt wiedergegeben wurde. In Konsequenz bedeutet dies, dass, sobald eine klare schriftliche Praxis der ESTV vorliegt, von einer steuerpflichtigen Person ohne spezialisierte MWST Kenntnisse nicht verlangt werden kann, dass sie sich zusätzlich noch mit der höchstrichterlichen Praxis auseinandersetzt. Gemäss BVGer ist es aber undenkbar, dass aus einer falschen Weisung der ESTV automatisch die Entschuldbarkeit eines Irrtums folgt. Dies ist nach Auffassung der Verfasserin nicht korrekt: Folgt die steuerpflichtige Person einer eindeutig formulierten Praxis der ESTV, die sich nachträglich als falsch erweist, genügt dies für die Annahme eines entschuldbaren Irrtums. Die steuerpflichtige Person muss erwarten können, dass die ESTV dem Legalitätsprinzip folgt und in ihrer Verwaltungspraxis die Gerichtspraxis korrekt wiedergibt.
4.3. Schlussfolgerung
Vorliegendes Urteil des BVGer ist insgesamt erfreulich und stellt einen Schritt in die richtige Richtung dar. Es ist zu hoffen, dass künftige Urteile des BVGer betreffend das Vorliegen eines entschuldbaren Irrtums in eine nachvollziehbare und der Realität gerecht werdende Praxis münden.
4.4. Vertrauensschutz – Bestehen der Steuerforderung
Es fragt sich, ob hier nicht bereits auf der Ebene des Bestehens der Steuerforderung ein Fall des Vertrauensschutzes hätte angenommen werden können bzw. müssen.0506
Dazu muss zunächst und in erster Linie eine Vertrauensgrundlage bestehen: Dabei handelt es sich um einen staatlichen Akt, dessen Bestimmtheitsgrad so gross ist, dass der Private (Privatpersonen wie Unternehmen) daraus die Informationen entnehmen kann, die für seine Dispositionen wesentlich sind.07 Es kann sich dabei um konkrete Verfügungen und Entscheide, aber bspw. auch um die allgemeingültige Verwaltungs- und Gerichtspraxis handeln. Vorliegend war die relevante Verwaltungspraxis der ESTV in französischer Sprache so klar (falsch) formuliert, dass das BVGer im Zusammenhang mit der Klärung der Frage, ob ein entschuldbarer Irrtum vorliegt, keinen Raum für eine Unsicherheit sah, aufgrund derer die BF sich für Rückfragen an die ESTV hätte wenden müssen. Am Bestehen einer Vertrauensgrundlage kann somit schwerlich gezweifelt werden.08
Aufgrund der klaren Verwaltungspraxis der ESTV ging die BF davon aus, dass sie nicht obligatorisch mehrwertsteuerpflichtig sei, weshalb sie sich nicht ins schweizerische MWST Register eintragen liess, was in einer entsprechenden Nachforderung der ESTV resultierte. Aufgrund der Kundenstruktur der BF (viele unterschiedliche ausländische Kunden ohne schweizerische MWST-Registrierung) konnte die nachträglich veranlagte MWST nicht an die Leistungsempfänger überwälzt werden. Bei einer korrekten Verwaltungspraxis hätte die Registrierung rechtzeitig erfolgen und die MWST demgemäss überwälzt werden können.
Weiter kann sich auf Vertrauensschutz nur berufen, wer eine allfällige Fehlerhaftigkeit der Vertrauensgrundlage nicht kannte bzw. nicht hätte können müssen. Letzteres ist aufgrund der individuellen Fähigkeiten und Kenntnisse der betroffenen Personen zu beurteilen.09 Die besagte Praxis der ESTV hält im Ergebnis fest, dass die sozialversicherungsrechtliche Qualifikation als (un)selbstständig erwerbende Person bestimmend ist für die mehrwertsteuerliche Qualifikation. Das Anknüpfen an die sozialversicherungsrechtliche Qualifikation macht durchaus Sinn und ist mit anderen Worten nicht so absurd, dass die Fehlerhaftigkeit hätte auffallen müssen.
Kann nun von einer steuerpflichtigen Person, die nicht in der Steuerberatung tätig ist bzw. auf MWST-Angelegenheiten spezialisiert ist, erwartet werden, dass sie die Fehlerhaftigkeit der Praxis der ESTV hätte erkennen müssen? Hätte sie trotz der eindeutigen Formulierung weitere Recherchen vornehmen müssen wie bspw. die italienischen oder deutschen Versionen konsultieren oder sich mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung in allen drei Landessprachen vertraut machen?10 Kann man ihr vorwerfen, dass sie keine Steuerberaterin zugezogen hat, die aller drei Sprachen mächtig ist und, wenn nicht, sich vertrauensvoll an einen Kontakt im anderen Landesteil wendet, um die mögliche Fehlerhaftigkeit der Praxis der ESTV zu überprüfen? Die Antwort dazu liegt eigentlich auf der Hand: Solche Erwartungen wären realitätsfern und würden den Steuerpflichtigen wiederum die gesamte Verantwortung für die korrekte Handhabung der MWST aufbürden, wie dies unter dem aMWSTG der Fall gewesen war. Es muss daher genügen, wenn Steuerpflichtige, zumindest diejenigen ohne besondere Kenntnisse im MWST-Bereich, die schriftliche Praxis der ESTV konsultieren. Ist diese eindeutig formuliert, kann der Steuerpflichtigen nicht vorgeworfen werden, sie hätte sich weiter informieren müssen.
Gelangt man zum Schluss, dass die Voraussetzungen für den Vertrauensschutz grundsätzlich gegeben sind, gilt es, das Interesse der BF gegen das öffentliche Interesse an der Anwendung der korrekten Praxis abzuwägen.
Gemäss bundesgerichtlicher Praxis gilt im Bereich des Steuerrechts der Vertrauensschutz lediglich eingeschränkt,11 da das Legalitätsprinzip höher gewichtet wird. Folglich wird regelmässig das Interesse des Fiskus an der Durchsetzung des geltenden Rechts höher gewichtet als der ebenfalls verfassungsmässige Anspruch der Steuerpflichtigen auf den Schutz des berechtigten Vertrauens in behördliche Zusicherungen bzw. sonstiges, bestimmte Erwartungen begündendes Verhalten der Behörden.
Dieses Verständnis des Legalitätsprinzipes ist jedoch einseitig, besteht doch dessen Hauptanliegen darin, sämtliche Verwaltungstätigkeit an das Gesetz zu binden.12 Dadurch sollen Rechtssicherheit und Rechtsgleichheit sowie der Schutz des Einzelnen vor staatlichen Eingriffen gewährleistet werden. Zudem erfüllt das Legalitätsprinzip eine demokratische Funktion, indem sich das Verwaltungshandeln aufgrund der Erfordernis der Gesetzesform auf ein Gesetz stützt, das unter Mitsprache des Volkes bzw. des Parlaments erlassen wurde.13 Gibt nun die Verwaltungspraxis der ESTV die richterliche Praxis nicht korrekt wieder, verletzt die ESTV das Legalitätsprinzip. Es ist nicht einzusehen, weshalb solche Handlungen regelmässig geschützt werden, während den Steuerpflichtigen der Vertrauensschutz abgesprochen wird. Es scheint als würden die Verwaltung und die Steuerpflichtigen mit unterschiedlichen Ellen gemessen.
Die allgemeine Lebenserfahrung zeigt, dass fehlerhafte Handlungen, die regelmässig unsanktioniert bleiben, in der Regel nicht korrigiert werden, sondern dass im Gegenteil die Fehlerhaftigkeit zunimmt. Mit anderen Worten hat die ESTV keinen Anreiz, ihre Verwaltungspraxis sorgfältiger zu formulieren bzw. die Rechtsprechung zeitnah und korrekt zu übernehmen, wenn die Gerichte auch in solchen Fällen regelmässig zugunsten der ESTV und zulasten der Steuerpflichtigen urteilen. Dies kann aber nicht hingenommen werden: Das Vertrauen der Steuerpflichtigen in eine kompetente Steuerbehörde, die sorgfältig und nach kohärenten Grundsätzen handelt und Verantwortung für ihre Handlungen, d.h. auch für ihre Fehler übernimmt, stellt einen zentralen Aspekt der Steuermoral bzw. des Vertrauens der Bürger und Bürgerinnen in den Staat dar. Müssen die Steuerpflichtigen sowohl für die eigenen Fehler wie auch für die Fehler der ESTV geradestehen, kann dies zu Ohnmachtsgefühlen und Staatsverdrossenheit führen. Dies vor allem in Fällen wie dem Vorliegenden, wo sich Steuerpflichtige mit einigem Recht die Frage stellen können, was um Himmels willen sie denn sonst noch hätten unternehmen sollen, um die MWST korrekt abzuwickeln. Stellt man diesen Aspekt in den Vordergrund, müsste dem Vertrauensschutz ein grösseres Gewicht eingeräumt werden.
01 «Da der Erlass gemäss Art. 112 Abs. 3 E-MWSTG auf bereits bestehende Forderungen ebenfalls Anwendung findet…», Botschaft 7015 zu Art. 91 Abs. 4 E-MWSTG.
02 Gemäss Ansicht der Verfasserin führt dieser generelle Anspruch zu weit; vielmehr sollte diesbezüglich analog der Regeln zum Vertrauensschutz im Verwaltungsrecht auf die Kenntnisse der steuerpflichtigen Person abgestellt werden.
03 «Aussi, l’argumentation présentée par l’autorité fiscale se trouve en porte-à-faux avec le minimum de cohérence requis”.
04 Urteil Bundesgericht 2C_262/2012 vom 23. Juli 2012, E. 3; Urteil BVGer A-5876/2010 vom 24. März 2010, E. 5.1.
05 Soweit ersichtlich wurde in den Urteilen, die sich zum Bestehen der Steuerforderung äussern, die Frage des Vertrauensschutzes nicht erörtert.
06 Ulrich Häfelin / Georg Müller / Felix Uhlmann, Allgemeines Verwaltungsrecht, 7. vollständig überarbeitet Auflage, Zürich/St. Gallen, 2016 (Häfelin/Müller/Uhlmann), § 10 Grundsatz von Treu und Glauben im öffentlichen Recht.
07 Häfelin/Müller/Uhlmann Rz. 627.
08 Ob die BF im vorliegenden Fall die Praxis der ESTV tatsächlich konsultiert hat und somit von der Vertrauensgrundlage wusste, müsste selbstredend nachgewiesen werden.
09 Ebenda, Rz. 656.
10 Die Verwaltungspraxis in italienischer und deutscher Sprache ist korrekt formuliert.
11 S. statt vieler: BGer 2C_95/2013 vom 21.8.2013; BGE 97 I 125 vom 27. Januar 1971.
12 Häfelin/Müller/Uhlmann Rz. 325.
13 Ebenda.