Rechtliche Auslegungsgrundlagen
Grundsätzliches
Falls die Parteien nicht geregelt haben, ob die Mehrwertsteuer zusätzlich zum vereinbarten Preis vom Leistungsempfänger verlangt werden darf, sind zur Beurteilung der Frage in Abhängigkeit der beteiligten Parteien unterschiedliche Rechtsgrundlagen heranzuziehen. Vertragsverhältnisse mit Beteiligung eines Konsumenten (neudeutsch auch B2C genannt) werden anders behandelt als solche zwischen Unternehmen (B2B). Vorweg soll an dieser Stelle aber festgehalten werden, dass sich die nachfolgenden Ausführungen insbesondere auf Fälle beziehen, in denen die Parteien die Überwälzung keiner vertraglichen Regelung unterworfen haben.
Leistungen an Konsumenten (B2C)
Die im Obligationenrecht (OR) statuierte Vertragsfreiheit wird durch das Bundesgesetz gegen den unlauteren Wettbewerb vom 19. Dezember 1986 (u.a. Art. 6 UWG) und die darauf basierende Preisbekanntgabeverordnung (PBV) eingeschränkt,5 soweit u.a. Waren und gewisse Dienstleistungen an Konsumenten angeboten werden. Konsumentinnen und Konsumenten sind gemäss Art. 2 Abs. 2 PBV Personen, die Waren oder Dienstleistungen für Zwecke kaufen, die nicht im Zusammenhang mit ihrer gewerblichen oder beruflichen Tätigkeit stehen. Konkret soll Art. 16 UWG sicherzustellen, dass die angegebenen Preise den tatsächlich zu bezahlenden Preisen (inkl. anfallenden Steuern und Gebühren) entsprechen. Art. 16 UWG dient somit unmittelbar dem Schutz der Konsumenten.06 Art. 4 Abs. 1 PBV bestimmt für Waren, bzw. Art. 10 Abs. 2 PBV für gewisse Dienstleistungen, dass überwälzte öffentliche Abgaben im Detailpreis enthalten sein müssen. Zu diesen öffentlichen Abgaben gehört u.a. die Mehrwertsteuer.07
Konsumenten dürfen somit grundsätzlich davon ausgehen, dass der angebotene Preis die Mehrwertsteuer mit- einschliesst (d.h. die Mehrwertsteuer ist im Preis enthalten und kann nicht zusätzlich verlangt werden).08
Leistungen an Unternehmen (B2B)
In Bezug auf die Auslegung von Preisvereinbarungen zwischen Unternehmen enthält das geltende Recht dagegen keine Spezialregelung.09 Ist die Tragung der Mehrwertsteuer vertraglich nicht klar vereinbart, muss gemäss Art. 18 Abs. 1 OR der wirkliche, übereinstimmende Wille der Parteien bestimmt werden. Gelingt dies nicht, müssen die Willenserklärungen der Parteien nach dem Vertrauensprinzip im Sinne einer objektiven Auslegung festgelegt werden.10 Bei der objektiven Auslegung ermittelt das Gericht, wie vernünftige und redlich handelnde Parteien unter den gegebenen Umständen die Frage der Überwälzung der Mehrwertsteuer geregelt hätten.11 Es geht folglich darum, den Parteiwillen festzustellen, den sie gehabt hätten, wenn sie die Frage geregelt hätten.12 Dies ist weiter auf der Grundlage von Treu und Glauben,13 den Vorverhandlungen,14 der bisherigen Geschäftsbeziehung15, der in einer bestimmten Branche üblichen Vertrags- und Preisgestaltung und ganz allgemein auf Grundlage sämtlicher Unterlagen und Hinweise im konkreten Fall16 zu bestimmen.17
Einige Autoren äussern sich dahingehend, dass im Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen grundsätzlich die Vermutung bestehe, die vereinbarten Preise umfassten die Mehrwertsteuer nicht, da der steuerpflichtige Abnehmer in der Regel die in Rechnung gestellte Mehrwertsteuer im Gegensatz zum Konsumenten als Vorsteuer aufgrund von Art. 28 Abs. 1 lit. a MWSTG in Abzug bringen könne und somit für ihn keine zusätzliche finanzielle Belastung darstelle.18
Gauch dagegen äussert sich (zumindest in Bezug auf vereinbarte Pauschal- oder Einheitspreisvergütungen für die Ausführung eines Werkes oder von Werkleistungen) im gegenteiligen Sinne, nämlich dahingehend, dass grundsätzlich keine Vermutung bestehe, dass der Unternehmer zusätzlich zum vereinbarten Preis die Mehrwertsteuer in Rechnung stellen könne. Eine allgemeine Übung, wonach die Mehrwertsteuer stets gesondert beansprucht werden könne, habe sich bis anhin noch nicht herausgebildet.19
Nach der hier vertretenen Ansicht besteht keine Vermutung, wonach im unternehmerischen Bereich die Mehrwertsteuer zusätzlich zum vereinbarten Preis belastet werden kann. Eine entsprechende Vermutung, wie sie in der Lehre erwähnt wird, entbehrt jeglicher Grundlage.
Es ist aber darauf hinzuweisen, dass ein Richter oder eine Richterin bei der Lückenfüllung eines Vertragsverhältnisses beachten sollte, dass der Leistungsempfänger in den meisten Fällen die Mehrwertsteuer zurückfordern kann und deshalb bei fehlender Regelung die Mehrwertsteuer als nicht im Preis enthalten zu verstehen sein sollte. So würden es nämlich vernünftige und redlich handelnde Parteien vereinbaren.
Der Autor regt weiter an, dass in Art. 6 MWSTG für Unternehmen eine gesetzliche Vermutung aufgenommen wird, nach welcher zwischen Mehrwertsteuerpflichtigen immer davon auszugehen ist, dass der Preis für eine mehrwertsteuerpflichtige Leistung bei fehlender MWST-Regelung zwischen den Parteien die Mehrwertsteuer nicht enthält (sprich nicht inklusive ist). Dies bedeutet, dass bei fehlender Regelung über die Mehrwertsteuer der Leistungserbringer die Mehrwertsteuer noch zusätzlich verlangen kann. Es obliegt dann dem Leistungsempfänger, den Gegenbeweis anzutreten, dass die Parteien die Mehrwertsteuer als inklusive betrachtet haben und er dem Leistungserbringer keine zusätzliche Mehrwertsteuer schuldet.
Kommen wir nun zu drei Fallbeispielen, welche die Folgen der oben dargelegten Auslegungsgrundlagen aufzeigen:
Fallbeispiele
Fall 1: Vertragsverhältnis mit Beteiligung eines Konsumenten
X ist Hobbyfussballer und bestellt im Internet ein Paar Fussballschuhe, die mit einem Preis von CHF 200 angeschrieben sind. Als X die Fussballschuhe zwei Tage später erhält, wundert er sich über die beiliegende Rechnung über CHF 216. Das Sportgeschäft, bei dem X die Schuhe bestellt hat, ist der Meinung, der vereinbarte Preis verstehe sich exklusive Mehrwertsteuer und stellte X deshalb zusätzliche CHF 16 Mehrwertsteuer in Rechnung. X möchte die CHF 16 nicht bezahlen und fragt sich, ob er diese Überwälzung der Mehrwertsteuer hinnehmen muss.
Bei X handelt es sich um einen Konsumenten im Sinn von Art. 2 Abs. 2 PBV, denn der Kauf der Fussballschuhe steht in keinem Zusammenhang mit seiner gewerblichen oder beruflichen Tätigkeit.
Aufgrund von Art. 4 Abs. 1 PBV darf X davon ausgehen, dass die Mehrwertsteuer im angegebenen Preis enthalten ist.
Daraus folgt, dass X nur den Betrag von CHF 200 zu begleichen hat. Die Mehrwertsteuer kann aufgrund des Inhalts der Preisvereinbarung (CHF 200) nicht auf X überwälzt werden und muss vom Sportgeschäft getragen werden.
Fall 2: Vertragsverhältnisse zwischen vorsteuerabzugsberechtigten Unternehmen
Die X AG stellt Bestandteile von Röntgengeräten her, die sie an die Y AG verkauft. Die Haupttätigkeit der kaufenden Y AG besteht darin, die Röntgengeräte zusammenzubauen und sie anschliessend an Schweizer Spitäler weiterzuverkaufen. Zwischen der X AG und der Y AG besteht eine langjährige Geschäftsbeziehung. Bezahlt wurde jeweils so viel, wie vereinbart worden war. Die Mehrwertsteuer war also inklusive. Zusätzliche Forderungen wurden vonseiten der X AG nie geltend gemacht. Die Y AG kauft wie üblich Bestandteile zu einem vereinbarten Preis von CHF 25000 bei der X AG. Die X AG schickt der Y AG nun eine Rechnung über CHF 27000 (vereinbarter Preis von CHF 25000 zuzüglich der Mehrwertsteuer im Betrag von CHF 2000). Die Y AG möchte wissen, ob sie die zusätzlichen CHF 2000 bezahlen muss, obschon ein Preis von CHF 25000 vereinbart wurde. Die Tätigkeit der Y AG ermöglicht einen vollen Vorsteuerabzug gemäss Art. 28 Abs. 1 lit. a MWSTG. Bestünde eine gesetzliche Vermutung mit oben dargestelltem Inhalt, so müsste die Y AG die CHF 2000 Mehrwertsteuer bezahlen. Wie oben dargelegt, besteht eine solche gesetzliche Vermutung heute nicht und die Überwälzung der Mehrwertsteuer ist ausschliesslich auf der Grundlage der oben dargestellten Auslegungsgrundsätze zu beurteilen.
Aufgrund von Treu und Glauben kann die Y AG im vorliegenden Fall davon ausgehen, dass der vereinbarte Preis die Mehrwertsteuer mitumfasst, da dies bei den früheren Käufen der Fall gewesen war. Folglich muss die Y AG die zusätzlichen CHF 2000 nicht begleichen. Die Mehrwertsteuer ist im vereinbarten Kaufpreis von CHF 25000 als inklusiv enthalten.
Diese dargestellte Lösung geht davon aus, dass die Parteien im Nachhinein nicht miteinander vereinbaren wollen, die Rechnung gemäss Art. 27 Abs. 4 MWSTG und MWST-Formular 1550_01/11.14 zu korrigieren. Dies wäre grundsätzlich auch möglich, da die Y AG den vollen Vorsteuerabzug hat und die zusätzlich an die X AG überwiesene MWST von der ESTV zurückfordern könnte.
Fall 3: Vertragsverhältnisse zwischen Unternehmen mit beschränktem Vorsteuerabzugsrecht des Leistungsempfängers
Ein Schweizer Spital kauft ein Röntgengerät von der Y AG. Der vereinbarte Kaufpreis beträgt CHF 50000. Das Spital kauft zum ersten Mal bei der Y AG ein. Eine entsprechende vertragliche Regelung im Hinblick auf die Mehrwertsteuer wurde aus Versehen nicht in den Vertrag eingefügt und auch sonst nicht erwähnt. Das Spital erhält nun eine Rechnung über CHF 54000 (vereinbarter Kaufpreis zuzüglich Mehrwertsteuer). Muss das Spital für die Mehrwertsteuer aufkommen?
Vorliegend fallen die vom Spital erbrachten Leistungen grösstenteils in den ausgenommenen Anwendungsbereich von Art. 21 Abs. 2 Ziff. 2 MWSTG, was die Möglichkeit des Vorsteuerabzugs begrenzt. Das Spital bezieht eine vorsteuerbelastete Leistung und muss die Vorsteuer grösstenteils tragen (Art. 29 Abs. 1 MWSTG i.V.m. Art. 21 Abs. 2 Ziff. 2 MWSTG), was dazu führt, dass das Spital durch die Vorsteuer wirtschaftlich belastet ist.20
Die zivilrechtliche Überwälzung der Mehrwertsteuer ist ausschliesslich auf der Grundlage der oben dargestellten Auslegungsgrundsätze durch den Richter oder die Richterin zu beurteilen. Die Vorverhandlungen lassen nicht darauf schliessen, dass der Wille der Parteien dahinging, die Mehrwertsteuer auf das Spital zu überwälzen. Weiter würde die zusätzliche Zahlung von CHF 4000 das Spital wirtschaftlich treffen, da es diese nur sehr beschränkt zurückfordern kann. Folglich ist es für ein Gericht auch sehr schwer, zu entscheiden, ob das Spital die CHF 4000 zusätzlich zu bezahlen hat oder nicht. Mit anderen Worten stösst auch die objektive Auslegung an ihre Grenzen und es ist nicht klar, wie vernünftige und redlich handelnde Parteien unter den gegebenen Umständen die Frage der Überwälzung der Mehrwertsteuer geregelt hätten.
Bestünde dagegen eine neue gesetzliche Vermutung in Art. 6 MWSTG mit oben dargestellten Inhalt (MWST ist im Geschäftsverkehr nicht enthalten), so käme sie auch in diesem Szenario zur Anwendung und das Spital müsste entsprechend die vereinbarten CHF 50000 und zusätzlich CHF 4000 MWST bezahlen.
Fazit
Preise, die mit Konsumenten vereinbart werden, müssen aufgrund des UWG und der PBV in den meisten Fällen zwingend die Mehrwertsteuer enthalten.
Die Situation stellt sich bei Unternehmen anders dar: Haben die Parteien keine Vereinbarung getroffen, so muss auf der Grundlage der oben erwähnten Auslegungsgrundsätze allenfalls durch ein Zivilgericht festgelegt werden, ob der Preis die Mehrwertsteuer mitumfasst oder nicht.
Entgegen Stimmen in der Lehre besteht heute weiter keine Vermutung, die dahingeht, dass im Geschäftsverkehr der vereinbarte Preis die Mehrwertsteuer nicht enthält.
Es ist deshalb zu hoffen, dass de lege ferenda in Art. 6 MWSTG eine gesetzliche Vermutung aufgenommen wird, nach welcher zwischen Mehrwertsteuerpflichtigen immer davon auszugehen ist, dass der Preis für eine mehrwertsteuerpflichtige Leistung bei fehlender MWST-Regelung zwischen den Parteien die Mehrwertsteuer nicht enthält und zusätzlich belastet werden kann. Dies bedeutet, dass bei fehlender Regelung über die Mehrwertsteuer der Leistungserbringer die Mehrwertsteuer noch zusätzlich verlangen kann. Damit wird der Mehrwertsteuerpflichtige mit Überwälzungsproblemen im Geschäftsverkehr nicht mehr alleine gelassen.