<article class="rz"><h2>1. Fallbeispiel</h2>
<p>Die Eidgenössische Steuerverwaltung (ESTV), Hauptabteilung Mehrwertsteuer, hat bei einer im Kanton Bern ansässigen Gesellschaft im Jahr 2019 eine Buchprüfung durchgeführt. Dabei hat sie Leistungen an eng verbundene Personen entdeckt. Die Resultate wurden später an die für die Verrechnungssteuer zuständige Abteilung der ESTV weitergeleitet. Diese erkannte geldwerte Leistungen für die Steuerperioden 2017 und 2018, weshalb sie im April 2021 bei der Gesellschaft nachträglich die entsprechenden Verrechnungssteuern erhob. Die Gesellschaft überwälzte dem ebenfalls im Kanton Bern wohnhaften Alleinaktionär die in Rechnung gestellten Verrechnungssteuern.</p>
<p>Der Alleinaktionär will die finanziellen Konsequenzen aus der erfolgten Buchprüfung möglichst gering halten. Er ersucht die Steuerverwaltung des Kantons Bern mit Brief vom Mai 2021, die nachträglich erhobenen Verrechnungssteuern zurückzuerstatten. Die direkten Steuern für die Steuerperioden 2017 und 2018 sind bereits rechtskräftig veranlagt. Um Bussen zu vermeiden, beantragt der Alleinaktionär deshalb gleichzeitig, die Angelegenheit im Rahmen einer straflosen Selbstanzeige sowohl für sich persönlich als auch für seine Gesellschaft zu bereinigen.</p>
<h2>2. Berührungspunkt Nachsteuerverfahren</h2>
<p>Am 28. September 2018 verabschiedeten die Eidgenössischen Räte eine Änderung des <a href="https://fedlex.data.admin.ch/eli/cc/1966/371_385_384">Verrechnungssteuergesetzes (VStG)</a><sup><a title="" href="#_ftn1" name="_ftnref1">01</a></sup>. Der revidierte <a href="https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1966/371_385_384/de#art_23">Art. 23 VStG</a> ist am 1. Januar 2019 in Kraft getreten. Seither kann die Rückerstattung der Verrechnungssteuer grundsätzlich z.B. auch in Nachsteuerverfahren erfolgen, wenn die mit der Verrechnungssteuer belasteten Einkünfte ursprünglich in der Steuererklärung fahrlässig nicht angegeben wurden.<sup><a title="" href="#_ftn2" name="_ftnref2">02</a></sup> Das Nachsteuerverfahren bildet seither einen Berührungspunkt zwischen dem Steuerstrafrecht bei den direkten Steuern und der Verrechnungssteuer. </p>
<p>Eine Nachsteuer wird nach <a href="https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1991/1184_1184_1184/de#art_151">Art. 151 DBG</a><sup><a title="" href="#_ftn3" name="_ftnref3">03</a></sup> erhoben, wenn sich aufgrund von Tatsachen oder Beweismitteln, die der Steuerverwaltung nicht bekannt waren, ergibt, dass eine Veranlagung zu Unrecht unterblieben oder unvollständig ist. Im Nachsteuerverfahren wird eine dem Gemeinwesen zu Unrecht entgangene Steuer nacherhoben. Im strafrechtlichen Steuerhinterziehungsverfahren wird eine Busse gesprochen, um ein unrechtmässiges Verhalten der Steuerpflichtigen zu ahnden.<sup><a title="" href="#_ftn4" name="_ftnref4">04</a></sup> In den Steuerhinterziehungsverfahren stellt sich deshalb die Frage, ob die Unterbesteuerung durch die Steuerpflichtigen bewusst (vorsätzlich) oder unbewusst (fahrlässig) herbeigeführt worden ist. Nachsteuer- und Steuerhinterziehungsverfahren werden in der Regel zeitlich parallel geführt.<sup><a title="" href="#_ftn5" name="_ftnref5">05</a></sup></p>
<p>Im Steuerhinterziehungsverfahren wird folglich stets mitentschieden, ob Fahrlässigkeit vorliegt und damit allenfalls die Voraussetzung zur Rückerstattung der Verrechnungssteuer nach <a href="https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1966/371_385_384/de#art_23">Art. 23 Abs. 2 VStG</a> gegeben ist. Erfolgt eine straflose Selbstanzeige, wird einzig die Nachsteuer erhoben, ohne dass ein Steuerhinterziehungsverfahren durchgeführt wird (<a href="https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1991/1184_1184_1184/de#art_175">Art. 175 Abs. 3 DBG</a>). Bei Vorliegen einer straflosen Selbstanzeige muss die Frage der Fahrlässigkeit nach <a href="https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1966/371_385_384/de#art_23">Art. 23 Abs. 2 VStG</a> somit gesondert beurteilt werden, wenn die Rückerstattung von Verrechnungssteuern beantragt wird, da es zu keinem Steuerstrafverfahren kommt.</p>
<h2>3. Rückerstattung der Verrechnungssteuer im Nachsteuerverfahren</h2>
<h3>3.1 Form und Frist</h3>
<p>In einem Nachsteuerverfahren wird nicht von Amtes wegen überprüft, ob Verrechnungssteuern zurückzuerstatten sind. Die Prüfung erfolgt auf schriftlichen Antrag hin (<a href="https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1966/371_385_384/de#art_29">Art. 29 Abs. 1 VStG</a>). Für Nachsteuerverfahren gibt es keine Steuererklärungsformulare. Deshalb muss der Antrag auf Rückerstattung der Verrechnungssteuer mittels Brief separat gegenüber der zuständigen Steuerverwaltung gestellt werden.</p>
<p>Ob dem Antrag entsprochen werden kann, hängt von verschiedenen Voraussetzungen ab. Im Grundsatz verwirkt der Anspruch auf Rückerstattung von Verrechnungssteuern bereits, wenn die mit der Verrechnungssteuer belasteten Einkünfte der Steuerverwaltung in der entsprechenden Steuererklärung nicht angegeben werden (<a href="https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1966/371_385_384/de#art_23">Art. 23 Abs. 1 VStG</a>). Wie erwähnt tritt die Verwirkung aber insbesondere dann nicht ein, wenn die Einkünfte in der ursprünglichen Steuererklärung fahrlässig nicht angegeben wurden und mitunter in einem laufenden Nachsteuerverfahren nachträglich angegeben werden (<a href="https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1966/371_385_384/de#art_23">Art. 23 Abs. 2 VStG</a>). Der Anspruch auf Rückerstattung der Verrechnungssteuer erlischt in zeitlicher Hinsicht aber dennoch, wenn der Antrag nicht innert drei Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres gestellt wird, in dem die steuerbare Leistung fällig geworden ist (<a href="https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1966/371_385_384/de#art_32">Art. 32 Abs. 1 VStG</a>). Diese dreijährige Frist gilt auch bei nachträglicher Deklaration in einem Nachsteuerverfahren.<sup><a title="" href="#_ftn6" name="_ftnref6">06</a></sup> Vorbehalten bleibt einzig eine neue Frist von 60 Tagen für das Einreichen eines Rückerstattungsantrags, wenn die Verrechnungssteuer erst auf Grund einer Beanstandung entrichtet und überwälzt worden ist (<a href="https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1966/371_385_384/de#art_32">Art. 32 Abs. 2 VStG</a>).</p>
<p>In unserem Fallbeispiel wurde die Verrechnungssteuer im April 2021 nach erfolgter Buchprüfung und damit nach einer Beanstandung erhoben, entrichtet und überwälzt. Der Antrag auf Rückerstattung der erhobenen Verrechnungssteuern pro 2017 und 2018 wurde im Rahmen der Selbstanzeige demnach form- und fristgerecht im Mai 2021 eingereicht. Gemäss der Übergangsbestimmung von <a href="https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1966/371_385_384/de#art_70_d">Art. 70d VStG</a> gilt <a href="https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1966/371_385_384/de#art_23">Art. 23 Abs. 2 VStG</a> explizit für Ansprüche, die seit dem 1. Januar 2014 entstanden sind, sofern darüber noch nicht rechtskräftig entschieden worden ist.<sup><a title="" href="#_ftn7" name="_ftnref7">07</a></sup></p>
<h3>3.2 Steuerhinterziehungsverfahren versus straflose Selbstanzeige</h3>
<p>Nach <a href="https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1991/1184_1184_1184/de#art_175">Art. 175 Abs. 1 DBG</a> wird mit Busse bestraft, wer vorsätzlich oder fahrlässig bewirkt, dass eine Veranlagung zu Unrecht unterbleibt bzw. eine rechtskräftige Veranlagung unvollständig ist. Bei entsprechendem Verdacht wird ein Steuerhinterziehungsverfahren eingeleitet (<a href="https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1991/1184_1184_1184/de#art_183">Art. 183 DBG</a>). Die Höhe der im Steuerhinterziehungsverfahren festgesetzten Busse ist abhängig von der hinterzogenen Steuer, welche im Nachsteuerverfahren festgesetzt wird. Die Busse beträgt in der Regel das Einfache der hinterzogenen Steuern. Sie kann bei leichtem Verschulden bis auf einen Drittel ermässigt bzw. bei schwerem Verschulden auf das Dreifache erhöht werden (<a href="https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1991/1184_1184_1184/de#art_175">Art. 175 Abs. 2 DBG</a>). </p>
<p>Auf ein Steuerziehungsverfahren bzw. eine Busse wird verzichtet, wenn eine steuerpflichtige Person erstmals eine Steuerhinterziehung selbst anzeigt und (a) die Hinterziehung keiner Steuerbehörde bekannt ist, (b) die Steuerverwaltung bei der Festsetzung der Nachsteuern vorbehaltlos unterstützt wird und (c) die steuerpflichtige Person sich ernstlich um die Bezahlung der geschuldeten Nachsteuern bemüht (<a href="https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1991/1184_1184_1184/de#art_175">Art. 175 Abs. 3 DBG</a>). Die Straflosigkeit ist damit u.a. davon abhängig, ob die Steuerhinterziehung im Zeitpunkt der Einreichung der Selbstanzeige einer Steuerbehörde bekannt ist. Die Kenntnis einer schweizerischen Steuerbehörde, selbst wenn diese für die Untersuchung der fraglichen Steuerhinterziehung konkret unzuständig ist, steht demnach der Straflosigkeit entgegen.<sup><a title="" href="#_ftn8" name="_ftnref8">08</a> </sup> </p>
<p>Im beschriebenen Fallbeispiel ist somit massgebend, dass die Selbstanzeige bei der Steuerverwaltung des Kantons Bern erst eingereicht wurde, nachdem die ESTV bereits erkannt hat, dass geldwerte Leistungen bisher nicht besteuert wurden. Deshalb greift im Fallbeispiel die straflose Selbstanzeige nicht und die Steuerverwaltung des Kantons Bern muss sowohl ein Nachsteuer- als auch ein Steuerhinterziehungsverfahren gegen den Alleinaktionär sowie die Gesellschaft einleiten.</p>
<h3>3.3 Prüfung des Rückerstattungsanspruchs</h3>
<p>Gesetzlich ist nicht konkret definiert, wann und in welchem Verfahren über den Rückerstattungsantrag zu entscheiden ist, wenn Einkünfte nachbesteuert werden, die der Verrechnungssteuer unterliegen. Bei Rückerstattungsanträgen im Zusammenhang mit Nachsteuerverfahren ist die zentrale Frage jeweils, ob die Einkünfte ursprünglich fahrlässig nicht deklariert worden sind (<a href="https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1966/371_385_384/de#art_23">Art. 23 Abs. 2 VStG</a>).</p>
<h4>3.3.1 Fahrlässigkeit</h4>
<p>Die Bedeutung der Begriffe Vorsatz und Fahrlässigkeit richtet sich nach dem Strafrecht und somit nach <a href="https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/54/757_781_799/de#art_12">Art. 12 Abs. 2 und 3 des Schweizerischen Strafgesetzbuches (StGB)</a><sup><a title="" href="#_ftn9" name="_ftnref9">09</a></sup>.<a title="" href="#_ftn10" name="_ftnref10"><sup>10</sup></a></p>
<p>Eine fahrlässige Tatbegehung liegt nach <a href="https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/54/757_781_799/de#art_12">Art. 12 Abs. 3 StGB</a> vor, wenn die Täterin die Folgen ihres Verhaltens aus pflichtwidriger Unvorsichtigkeit nicht bedenkt oder darauf nicht Rücksicht nimmt. Pflichtwidrig ist die Unvorsichtigkeit, wenn die Täterin die Vorsicht nicht beachtet, zu der sie nach den Umständen und nach ihren persönlichen Verhältnissen verpflichtet ist. Vorsätzlich handelt dagegen, wer die Tat mit Wissen und Willen ausführt (<a href="https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/54/757_781_799/de#art_12">Art. 12 Abs. 2 StGB</a>). Eventualvorsatz liegt vor, wenn die Täterin die Verwirklichung eines Tatbestands zwar nicht mit Gewissheit voraussieht, aber doch ernsthaft für möglich hält und die Erfüllung des Tatbestands für den Fall, dass sie eintreten sollte, mindestens in Kauf nimmt.<sup><a title="" href="#_ftn11" name="_ftnref11">11</a></sup></p>
<p>Die Abgrenzung zwischen Fahrlässigkeit, Eventualvorsatz und Vorsatz ist dabei im Einzelfall nicht immer einfach vorzunehmen. Es muss regelmässig von äusseren Tatsachen und Indizien auf den inneren Willen der steuerpflichtigen Personen geschlossen werden.<sup><a title="" href="#_ftn12" name="_ftnref12">12</a></sup> Vereinfacht gesprochen liegt leichte Fahrlässigkeit dann vor, wenn die fragliche Fehldeklaration jeder gewissenhaften, zuverlässigen Person auch passieren könnte. Je deutlicher eine Fehldeklaration für den Steuerpflichtigen auf Grund seiner Erfahrung oder auch seiner intellektuellen Fähigkeiten erkennbar sein muss, umso eher ist auf Eventualvorsatz zu schliessen. Auch die Höhe der nicht deklarierten Steuerfaktoren im Verhältnis zu den korrekt angegebenen Steuerfaktoren kann eine Rolle spielen: Allgemein darf davon ausgegangen werden, dass kleine Beträge bei der Deklaration eher vergessen gehen als grosse Einkommens- und Vermögensbestandteile. </p>
<p>Der Sachverhalt unseres Fallbeispiels gibt keine klaren Anhaltspunkte, ob von Fahrlässigkeit oder von Vorsatz auszugehen ist.<sup><a title="" href="#_ftn13" name="_ftnref13">13</a></sup></p>
<h4>3.3.2 Verfahrensablauf Kanton Bern</h4>
<p>In der Praxis der Steuerverwaltung des Kantons Bern wird im Nachsteuerverfahren nicht formell verfügt, ob nach entsprechendem (ausdrücklichem oder sinngemässem) Antrag die Verrechnungssteuer zurückerstattet wird.</p>
<p>Im Rahmen des Nachsteuerverfahrens wird der steuerpflichtigen Person mitgeteilt, dass nach rechtskräftigem Abschluss des Nachsteuerverfahrens eine anfechtbare Verfügung durch die Abteilung Verrechnungssteuer zur Frage der Rückerstattung eröffnet wird. Die Akten werden nach Rechtskraft der Nachsteuerverfügung von der Abteilung Nachsteuer, die auch die Steuerhinterziehungsverfahren durchführt, an die Abteilung Verrechnungssteuer weitergeleitet. Die Abteilung Nachsteuer beurteilt dabei regelmässig, ob die Einkünfte ursprünglich fahrlässig oder vorsätzlich nicht deklariert wurden. Da die Frage der Fahrlässigkeit im Steuerhinterziehungsverfahren immer mitbeantwortet wird, verweist die Abteilung Nachsteuer diesbezüglich auf die Bussenverfügungen bzw. die entsprechenden Begründungen. Bei straflosen Selbstanzeigen nimmt die Abteilung Nachsteuer eine separate Beurteilung auf Grund der vorhandenen Akten vor.</p>
<p>Gestützt darauf entscheidet die Abteilung Verrechnungssteuer in einer anfechtbaren Verfügung, ob die Verrechnungssteuer der steuerpflichtigen Person nachträglich zurückerstattet wird.</p>
<h3>3.4 Überprüfungsbefugnis der ESTV</h3>
<p>Nachdem der Kanton die Verrechnungssteuer der steuerpflichtigen Person zurückerstattet hat, ruft er diese beim Bund ab (<a href="https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1966/371_385_384/de#art_57">Art. 57 Abs. 1 VStG</a>).</p>
<p>Die ESTV hat das Recht, die Abrechnungen der Kantone zu überprüfen (<a href="https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1966/371_385_384/de#art_57">Art. 57 Abs. 2 VStG</a>). Die diesbezüglichen Kompetenzen der ESTV sind weitgehend. Sie umfassen insbesondere das Akteneinsichtsrecht sowie die Möglichkeit, weitere Untersuchungen anzuordnen. In der Regel erfolgen die Überprüfungen der ESTV im Rahmen von periodischen Kontrollen der Steuerdossiers vor Ort in den Kantonen.<a title="" href="#_ftn14" name="_ftnref14"><sup>14</sup></a> Ergibt eine solche Überprüfung, dass die vom Kanton gewährte Rückerstattung zu Unrecht erfolgt ist, kann die ESTV vorsorglich eine entsprechende Kürzung des Betrages anordnen. Diese wird mit der nächsten Verrechnungssteuerabrechnung dem Kanton auferlegt (<a href="https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1966/371_385_384/de#art_57">Art. 57 Abs. 3 VStG</a>). Betroffen von einer solchen Kürzung ist somit zunächst der abrechnende Kanton, während die allenfalls zu Unrecht in Genuss der Rückerstattung gekommene, steuerpflichtige Person vorerst keine Kenntnis über das Kontrollergebnis der ESTV erhält.<a title="" href="#_ftn15" name="_ftnref15"><sup>15</sup></a></p>
<p>Das ändert sich, wenn die kantonale Steuerverwaltung sich dafür entscheidet, von der steuerpflichtigen Person die Rückleistung zu verlangen. Wird gemäss <a href="https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1966/371_385_384/de#art_57">Art. 57 Abs. 3 VStG</a> seitens der ESTV tatsächlich eine vorsorgliche Kürzung angeordnet, kann die kantonale Steuerverwaltung von der steuerpflichtigen Person wiederum die Rückleistung der Verrechnungssteuer verlangen (<a href="https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1966/371_385_384/de#art_58">Art. 58 Abs. 1 VStG</a>). Dabei steht der steuerpflichtigen Person der Rechtsmittelweg erneut offen. Mit anderen Worten kann die steuerpflichtige Person vor Gericht geltend machen, dass ihr die Verrechnungssteuer vom Kanton zu Recht zurückerstattet wurde (<a href="https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1966/371_385_384/de#art_58">Art. 58 Abs. 2 VStG</a>). Der Entscheid hat bindende Wirkung nicht nur für die Forderung des Kantons gegenüber der steuerpflichtigen Person, sondern auch betreffend die Zulässigkeit und den Umfang der vorsorglichen Kürzung durch die ESTV gegenüber dem Kanton.<a title="" href="#_ftn16" name="_ftnref16"><sup>16</sup></a> Die vorsorgliche Kürzung kann aber auch direkt von der kantonalen Steuerbehörde vor Bundesgericht angefochten werden (<a href="https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1966/371_385_384/de#art_58">Art. 58 Abs. 4 VStG</a>), ohne von der steuerpflichtigen Person zuvor die Rückleistung zu verlangen. </p>
<h3>3.5 Zwischenfazit</h3>
<p>Durch den revidierten <a href="https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1966/371_385_384/de#art_23">Art. 23 Abs. 2 VStG</a> ist mit Blick auf die Verwirkung des Rückerstattungsanspruchs von grosser Tragweite, ob die mit der Verrechnungssteuer belasteten Einkünfte ursprünglich fahrlässig oder vorsätzlich nicht deklariert worden sind: Handelt die steuerpflichtige Person vorsätzlich, hat sie nicht nur mit einer höheren Busse zu rechnen, sondern erhält im Gegensatz zur fahrlässig handelnden Person die erhobene Verrechnungssteuer nicht zurück. Der Bussenfaktor für vorsätzliche oder eventualvorsätzliche Steuerhinterziehung beträgt je nach Verschulden in den meisten Fällen 0.75 bis 1.5. Bei Fahrlässigkeit liegt der Bussenfaktor erfahrungsgemäss zwischen 0.33 und 1.0.<sup><a title="" href="#_ftn17" name="_ftnref17">17</a></sup></p>
<p>Im Gesamtbild kann ein verwirkter Rückerstattungsanspruch die Busse bzw. die strafrechtliche Sanktion zusätzlich verstärken. Insofern bleibt der Frage nachzugehen, ob diesem Umstand allenfalls bei der Strafzumessung im Steuerhinterziehungsverfahren Rechnung zu tragen ist. In zeitlicher Hinsicht muss weiter im Auge behalten werden, dass selbst eine von der kantonalen Steuerverwaltung gewährte Rückerstattung später seitens der ESTV noch in Frage gestellt werden kann.</p>
<h2>4. Strafzumessung im Steuerhinterziehungsverfahren</h2>
<h3>4.1 Grundlagen der Strafzumessung</h3>
<p>Steuerhinterziehungsbussen sind Kriminalstrafen, bei deren Ausfällung die verfassungsrechtlichen Strafrechtsgrundsätze und die Verfahrensgrundsätze nach <a href="https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1974/2151_2151_2151/de#art_6">Art. 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK)</a> zu beachten sind.<a title="" href="#_ftn18" name="_ftnref18"><sup>18</sup></a> Die Strafzumessung muss insgesamt zu einer verhältnismässigen Strafe führen, ein Höchstmass an Gleichheit gewährleisten und wohl begründet sein.<a title="" href="#_ftn19" name="_ftnref19"><sup>19</sup></a> Die Strafe wird entsprechend dem Verschulden des Täters im vorgesehenen Strafrahmen festgesetzt (<a href="https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/54/757_781_799/de#art_47">Art. 47 StGB</a>).</p>
<h3>4.2 Strafrahmen</h3>
<p>Der Strafrahmen ist im Gesetz nicht betragsmässig, sondern als Bruchteil (ein Drittel) bzw. Vielfaches (bis zum Dreifachen) der hinterzogenen Steuer festgelegt (<a href="https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1991/1184_1184_1184/de#art_175">Art. 175 Abs. 2 DBG</a>). Für die vorsätzliche und fahrlässige Tatbegehung ist damit derselbe Strafrahmen vorgesehen.</p>
<p>Das Verschulden der steuerpflichtigen Person wird individuell berücksichtigt und als (höherer oder tieferer) Bussenfaktor abgebildet. Zu prüfen ist, ob das Verschulden im Rahmen der festgestellten Schuldform (Vorsatz oder Fahrlässigkeit) leichter oder schwerer wiegt und sich deshalb eine höhere oder tiefere Strafe aufdrängt.<a title="" href="#_ftn20" name="_ftnref20"><sup>20</sup></a> Beim Verschulden wird ferner der eingetretene Taterfolg regelmässig besonders gewichtet. Dabei darf aber nicht auf die absolute Höhe der hinterzogenen Steuern abgestellt werden. Denn diesem Umstand wird durch die Verknüpfung des Bussenfaktors mit der hinterzogenen Steuer bereits genügend Rechnung getragen. Der Taterfolg ist vielmehr relativ im Verhältnis zwischen dem gemäss Selbstdeklaration festgesetzten und dem korrekterweise geschuldeten Steuerbetrag zu verstehen.<a title="" href="#_ftn21" name="_ftnref21"><sup>21</sup></a> Nebst der Schwere der Verfehlung und der Verwerflichkeit der Verhaltensweise des Täters, seinen Beweggründen und Zielen, sind die persönlichen Verhältnisse bezogen auf den Urteilszeitpunkt zum Strafmass zu berücksichtigen. Zu den massgeblichen persönlichen Verhältnissen zählen insbesondere Einkommen und Vermögen, Lebensaufwand, Familien- und Unterstützungspflichten, die berufliche Situation sowie Alter und Gesundheit, aber auch das Verhalten nach der Tat und im Verfahren, wie z.B. Reue und Einsicht.<sup><a title="" href="#_ftn22" name="_ftnref22">22</a></sup> Insgesamt werden sowohl das deliktsspezifische Verschulden als auch die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse im Rahmen eines einzigen Strafzumessungsvorgangs ermittelt und durch den Bussenfaktor festgesetzt.<a title="" href="#_ftn23" name="_ftnref23"><sup>23</sup></a></p>
<p>Damit steht den Steuerbehörden angesichts des weiten Strafrahmens ein grosser Ermessenspielraum zu.<sup><a title="" href="#_ftn24" name="_ftnref24">24</a></sup> Als grobe Regel gilt, dass das Regelstrafmass vom Einfachen der hinterzogenen Steuer greift, wenn Vorsatz vorliegt und es gleichzeitig an Strafminderungs- und Straferhöhungsgründen fehlt.<a title="" href="#_ftn25" name="_ftnref25"><sup>25</sup></a> Konkurrieren in separaten Verfahren abzuurteilende Steuerstrafdelikte, ist dies bei der Strafzumessung zwingend zu berücksichtigen. Das folgt aus dem verfassungsrechtlichen Grundsatz «ne bis in idem», wonach niemand wegen der gleichen Tat zweimal verfolgt werden darf.<a title="" href="#_ftn26" name="_ftnref26"><sup>26</sup></a> Wenn nicht von vornherein eine unzulässige Doppelbestrafung vorliegt, hat konsequenterweise diejenige Strafbehörde, welche einen identischen Sachverhalt zeitlich als Letzte zu beurteilen hat, auch die grösste Strafminderung zu gewähren.<a title="" href="#_ftn27" name="_ftnref27"><sup>27</sup></a> Im Einzelfall könnte dabei sogar eine gesetzlich vorgesehene Mindeststrafe unterschritten werden.<a title="" href="#_ftn28" name="_ftnref28"><sup>28</sup></a></p>
<h3>4.3 Berücksichtigung nicht zurückerstatteter Verrechnungssteuern</h3>
<p>Bei der Strafzumessung können nicht rückerstattete Verrechnungssteuern somit theoretisch unter zwei Gesichtspunkten berücksichtigt werden: Einerseits im Rahmen der wirtschaftlichen Verhältnisse oder andererseits als strafrechtliche Sanktion, soweit es sich bei der Verweigerung der Rückerstattung der Verrechnungsteuer selbst um eine echte Strafe handeln sollte.</p>
<h4>4.3.1 Verrechnungssteuer als Strafe?</h4>
<p>Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts gilt die Verweigerung der Rückerstattung der Verrechnungssteuer nicht als Strafe. Das Bundesgericht hat in einem Entscheid vom 05. September 1990 festgehalten, dass der in <a href="https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1966/371_385_384/de#art_23">Art. 23 VSt</a><a href="https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1966/371_385_384/de#art_23">G</a> geregelten Verwirkung des Rückerstattungsanspruchs kein Strafcharakter zukommt.<sup><a title="" href="#_ftn29" name="_ftnref29">29</a></sup></p>
<p>Die Haltung des Bundesgerichts wird zuweilen kritisch hinterfragt: Die Schlussfolgerung des Bundesgerichts basiere im Wesentlichen auf der Tatsache, dass <a href="https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1966/371_385_384/de#art_23">Art. 23 VStG</a> nicht unter den einschlägigen Strafbestimmungen im innerstaatlichen Recht eingereiht ist.<a title="" href="#_ftn30" name="_ftnref30"><sup>30</sup></a> Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) sei die Qualifikation im innerstaatlichen Recht aber lediglich Ausgangspunkt und nicht das Ende der Prüfung bezüglich des Strafcharakters.<a title="" href="#_ftn31" name="_ftnref31"><sup>31</sup></a> Tatsächlich weise die Verweigerung der Rückerstattung der Verrechnungssteuer einige Parallelen zu den vom EGMR als Strafe qualifizierten Steuerzuschlägen (nach französischem, schwedischem und finnischem Recht) auf.<sup><a title="" href="#_ftn32" name="_ftnref32">32</a></sup></p>
<p>Trotz der erwähnten Kritik bleibt die Rechtsprechung des Bundesgerichts für die kantonalen Steuerverwaltungen sowie die kantonalen Steuergerichte bindend. Deshalb können nicht zurückerstattete Verrechnungssteuern im Rahmen der Strafzumessung grundsätzlich nicht als strafrechtliche Sanktion berücksichtigt und allenfalls strafmindernd einbezogen werden.<a title="" href="#_ftn33" name="_ftnref33"><sup>33</sup></a></p>
<h4>4.3.2 Wirtschaftliche Verhältnisse</h4>
<p>Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit hat einen Einfluss auf die Strafzumessung. Nach strafrechtlichen Gesichtspunkten geht es primär darum, die Bussenhöhe so zu bestimmen, dass der Täter dadurch die Strafe erleidet die seinem Verschulden angemessen ist.<sup><a title="" href="#_ftn34" name="_ftnref34">34</a></sup> Dabei soll ein wirtschaftlicher Zusammenbruch des Steuerpflichtigen vermieden werden.<sup><a title="" href="#_ftn35" name="_ftnref35">35</a></sup> Bei der Prüfung der wirtschaftlichen Verhältnisse sind insbesondere das laufende Einkommen sowie das gegenwärtige Vermögen zu berücksichtigen.<a title="" href="#_ftn36" name="_ftnref36"><sup>36</sup></a> Auch künftigen finanziellen Verhältnissen darf Rechnung getragen werden.<sup><a title="" href="#_ftn37" name="_ftnref37">37</a></sup></p>
<p>Mit Blick auf die vorgesehene Überwälzung (<a href="https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1966/371_385_384/de#art_14">Art. 14 VStG</a>) ist die Verrechnungssteuer aus Sicht der beteiligten natürlichen Person im Grundsatz ein Vermögenswert, der im Falle von Fahrlässigkeit noch einbringbar und bei Vorsatz nicht mehr einbringbar bzw. verloren ist. Insofern besteht ein gewisser Konnex zu den persönlichen wirtschaftlichen Verhältnissen. Dementsprechend wäre es möglich, die überwälzte und nicht rückforderbare Verrechnungssteuer bei der Strafzumessung strafmindernd zu berücksichtigen. Die Strafminderung ist immer dann zwingend, wenn die wirtschaftlichen Verhältnisse kritisch sind.<a title="" href="#_ftn38" name="_ftnref38"><sup>38</sup></a> Nach Ansicht der Autoren sollte die überwälzte, aber bei vorsätzlicher Tatbegehung nicht rückerstattungsfähige Verrechnungssteuer unter dem Titel der wirtschaftlichen Verhältnisse generell strafmindernd berücksichtigt werden, da sie per Saldo zu einer Vermögensreduktion und damit einer wirtschaftlichen Schlechterstellung führt. Nur so kann der geforderten Verhältnismässigkeit gegenüber der Bestrafung bei fahrlässiger Tatbegehung Rechnung getragen werden, welche durch den revidierten <a href="https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1966/371_385_384/de#art_23">Art. 23 Abs. 2 VStG</a> verschoben worden ist.<a title="" href="#_ftn39" name="_ftnref39"><sup>39</sup></a></p>
<h2>5. Falllösung und Ausblick</h2>
<p>Da die ESTV die geldwerte Leistung erkannte, bevor der Alleinaktionär sich und seine Gesellschaft selbst anzeigte, kann keine Straflosigkeit mehr zugestanden werden. Die Steuerverwaltung des Kantons Bern muss gegen den Alleinaktionär und die Gesellschaft sowohl ein Nachsteuer- als auch ein Steuerhinterziehungsverfahren einleiten und durchführen.<a title="" href="#_ftn40" name="_ftnref40"><sup>40</sup></a> Bei fahrlässiger Tatbegehung kann die Steuerverwaltung des Kantons Bern die nachträglich erhobene Verrechnungssteuer zurückerstatten. Liegt hingegen eine vorsätzliche Tatbegehung vor, wird die Verrechnungssteuer nicht mehr zurückerstattet.<sup><a title="" href="#_ftn41" name="_ftnref41">41</a></sup></p>
<p>Der Alleinaktionär mit Wohnsitz im Kanton Bern darf bei festgestellter, vorsätzlicher Tatbegehung davon ausgehen, dass der Verlust der Verrechnungssteuer bei der Bussenfestsetzung strafmindernd mitberücksichtigt wird.<a title="" href="#_ftn42" name="_ftnref42"><sup>42</sup></a></p>
<p>Wird auf eine fahrlässige Tatbegehung geschlossen und die Verrechnungssteuer zurückerstattet, besteht für die ESTV noch die Möglichkeit, auf diesen Entscheid zurückzukommen und die Rückabwicklung zu verlangen.<a title="" href="#_ftn43" name="_ftnref43"><sup>43</sup></a> Werden in einem solchen Fall gegen die allfällig geforderte Rückabwicklung Rechtsmittel ergriffen, gäbe dies dem Bundesgericht Gelegenheit, seine bisherige Rechtsprechung zu bestätigen oder allenfalls zu ändern. Jedenfalls bleibt zu hoffen, dass es sich vertieft mit der Frage auseinandersetzt, ob der Verwirkung des Rückerstattungsanspruchs der Verrechnungssteuer Strafcharakter zukommt oder nicht.<a title="" href="#_ftn44" name="_ftnref44"><sup>44</sup></a></p></article>
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