<article class="rz"><h2>1. Einleitung</h2>
<p>Die Altreservenproblematik ist heutzutage von der täglichen Steuerberatungspraxis in der Schweiz kaum mehr wegzudenken. Über zahlreichen Umstrukturierungen, aber auch Verkäufen unter unabhängigen Dritten, hängt stets das Damoklesschwert einer zumindest teilweise verweigerten Verrechnungssteuerrückerstattung. Obwohl ursprünglich im Missbrauchsgedanken begründet, ist ein Trend hin zu einem eigentlichen positivrechtlichen Altreserventatbestand (wie auch anderer Missbrauchstatbestände<a title="" href="#_ftn1" name="_ftnref1"><sup>01</sup></a>) zu beobachten. Die entsprechende Problematik soll im vorliegenden Beitrag anhand einer Sitzverlegung eines ausländischen Unternehmens in die Schweiz untersucht werden. Auch hier ging die Eidgenössische Steuerverwaltung (ESTV) zunächst davon aus, dass die in die Schweiz gebrachten «Altreserven» uneingeschränkt der schweizerischen Missbrauchspraxis unterlägen</p>
<h2>2. Ein Praxisfall</h2>
<h3>2.1 Sachverhalt</h3>
<p>Die A-Gruppe hat ihren Konzernhauptsitz in den USA. Geplant war, sämtliche europäischen Gesellschaften in die niederländische Sub-Holding C HoldCo einzubringen und in einem zweiten Schritt den Sitz der spanischen Holdinggesellschaft D HoldCo in die Schweiz zu verlegen. Aufgrund zeitlicher Verzögerungen bei der Umsetzung der Transaktion wurden die Schritte aber umgestellt: Zuerst verlegte die D HoldCo ihren Sitz von Spanien in die Schweiz. Rund ein Jahr später wurde sie in die C HoldCo eingebracht.</p>
<p><img src="https://images.ctfassets.net/bgpaxzxi3eyz/1WJkOIvJLFaAjENBXmk58n/74d14036ae3ef510e4e3aac8dc2c1c99/A9_Band_2-2021_GrafikRZ3.png" alt="zsis zentrum schweizerisches und internationales steuerrecht tobias rohner selina many sitzverlegung schweiz altreservenpraxis" width="930" height="400" /></p>
<p>Unmittelbar vor dem Zuzug in die Schweiz präsentierte sich das Bilanzbild der D HoldCo wie folgt:<sup><a title="" href="#_ftn2" name="_ftnref2">02</a></sup></p>
<p><img src="https://images.ctfassets.net/bgpaxzxi3eyz/4Frersl1LXC0Gg2lm4QAj8/2dc9ab12f2e7b1e78d96a3e88f19c3e4/A9_Band_2-2021_GrafikRZ5.png" alt="zsis zentrum schweizerisches und internationales steuerrecht tobias rohner selina many sitzverlegung schweiz altreservenpraxis" width="930" height="186" /></p>
<p>Ihr erstes Geschäftsjahr nach ihrem Zuzug in die Schweiz schloss die D HoldCo mit einer schwarzen Null ab. Das Bilanzbild bei Einbringung in die C HoldCo gestaltete sich demnach weiterhin unverändert.<a title="" href="#_ftn3" name="_ftnref3"><sup>03</sup></a></p>
<h3>2.2 Auffassung der ESTV</h3>
<p>Im Hinblick auf eine geplante Dividendenausschüttung einige Jahre nach der Sitzverlegung stellte die D HoldCo bei der ESTV einen Antrag auf Meldung statt Entrichtung der Verrechnungssteuer. Die ESTV zweifelte nicht an der Abkommensberechtigung der C HoldCo, stellte sich aber auf den Standpunkt, dass ein Abkommensmissbrauch (Altreservenfall) vorläge. Unmittelbar nach der Sitzverlegung der D HoldCo in die Schweiz sei <a href="https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1999/223/de#art_10" target="_blank" rel="noopener">Art. 10 Abs. 2 lit. a des Doppelbesteuerungsabkommens Schweiz-USA</a> (DBA-USA) anwendbar gewesen. Diese Bestimmung sehe bei qualifizierten Beteiligungen für Dividendenausschüttungen eine Sockelsteuerbelastung von 5% vor. Nach der Einlage der Aktien der D HoldCo in die C HoldCo seien die Dividendenausschüttungen gemäss <a href="https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/2011/724/de#art_10" target="_blank" rel="noopener">Art. 10 Abs. 3 lit. a des Doppelbesteuerungsabkommens Schweiz-Niederlande</a> (DBA-NL) hingegen vollständig von der Quellensteuer befreit, weshalb die vollständige Verrechnungssteuerentlastung für die bei Einbringung bereits bestehenden Reserven nicht gewährt werden könne. Dem Argument, dass die Reserven der D HoldCo grossmehrheitlich im Ausland geäufnet wurden, schenkte die ESTV vorerst kein Gehör. Erst als der Nachweis erbracht wurde, dass die im Ausland entstandenen Reserven durch Kapitaleinlagen entstanden und diese als solche auch in der Schweiz anzuerkennen seien, konnte das Problem der Altreserven massiv entschärft werden.</p>
<p>Soweit aber die ausländischen Reserven durch Gewinnrückbehalte entstanden sind, bleibt gemäss Praxis der ESTV das Altreservenproblem. Die ESTV stellt sich mithin auf den Standpunkt, dass sich die Altreservenproblematik unabhängig davon stellt, ob die Reserven im In- oder Ausland sind. Lediglich dann, wenn die im Aus- oder im Inland entstandenen Reserven als Kapitaleinlagereserven (KER) gelten, komme die Altreservenpraxis nicht zur Anwendung, da KER nicht der Verrechnungssteuer unterliegen würden. Diese Ansicht soll in der Folge kritisch beurteilt werden.</p>
<h2>3. Steuersystematische Einordnung von importierten Reserven</h2>
<p>Die Praxis der ESTV differenziert, ob die im Ausland gebildeten Reserven Gewinnreserven oder KER darstellen.<a title="" href="#_ftn4" name="_ftnref4"><sup>04</sup></a> Dies hat zur Folge, dass auch die Rückzahlung von importierten KER nicht von der Verrechnungssteuer erfasst ist.<a title="" href="#_ftn5" name="_ftnref5"><sup>05</sup></a> Umgekehrt unterliegen die importierten Gewinnreserven aber neu latent der Verrechnungssteuer. Grundlage hierfür ist die Bestimmung von <a href="https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1966/371_385_384/de#art_4" target="_blank" rel="noopener">Art. 4 Abs. 1 Verrechnungssteuergesetz</a> (VStG), die nicht danach unterscheidet, ob die Gewinnreserven vor oder nach dem Zuzug entstanden sind.</p>
<p>Dies ist bereits insofern problematisch, als das Steuerrecht eines Wegzugsstaats die Sitzverlegung regelmässig einer Liquidation gleichstellt (Liquidationsfiktion) und somit die (offenen und verdeckten) Gewinnreserven besteuert werden. Eine solche Regelung enthält auch die Schweiz in <a href="https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1966/371_385_384/de#art_4" target="_blank" rel="noopener">Art. 4 Abs. 2 VStG</a>. So wird die Verlegung des Sitzes einer schweizerischen Aktiengesellschaft, GmbH oder Genossenschaft ins Ausland steuerlich der Liquidation der Gesellschaft gleichgestellt.</p>
<p>Diese Doppelbesteuerungsproblematik könnte unter Umständen bereits durch eine systematische Auslegung der unilateralen Regelungen vermieden werden. Zieht man eine Analogie zur steuerlichen Behandlung der Sitzverlegung ins Ausland, die steuerrechtlich als Liquidation behandelt wird, muss der Zuzug ins Inland als eine Neugründung behandelt werden, sodass die gesamten (oder zumindest die handelsrechtlich offen ausgewiesenen) Reserven per se Einlagen der Aktionäre darstellen und bei Ausschüttung entsprechend von der Verrechnungssteuer ausgenommen sind.<a title="" href="#_ftn6" name="_ftnref6"><sup>06</sup></a> Dass der Wortlaut von <a href="https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1966/371_385_384/de#art_5" target="_blank" rel="noopener">Art. 5 Abs. 1<sup>bis</sup> VStG</a> hier an die separate Verbuchung von KER spezifisch in der Handelsbilanz anknüpft, spricht nach Auffassung der Autoren nicht gegen diesen Ansatz, da der Wortlaut einer Norm dort zurückzutreten hat, wo er wie hier ein systematisch nicht haltbares Ergebnis bewirkt. Mag das Anknüpfen an die Handelsbilanz im reinen Binnensachverhalt sachgerecht sein, ist dies in einem Zuzugsfall, welchen der Gesetzgeber bei Verabschiedung der Bestimmung kaum in dieser Form im Blickfeld gehabt haben dürfte, unter Umständen da nicht sachgerecht, wo das Handelsrecht eine Verbuchung als KER nicht zulassen sollte. In diesem Fall muss die Erstellung einer speziellen Steuerbilanz auch für Verrechnungssteuerzwecke erlaubt sein.</p>
<p>Vor diesem Hintergrund dürfte sich die Altreservenfrage für importierte Reserven von Vornherein nicht stellen. Wie nachfolgend aufgezeigt wird, dürfte die Anwendung der Altreservenpraxis in Fällen wie dem Vorliegenden aber auch anhand ihrer eigenen Voraussetzungen scheitern.</p>
<h2>4. Übersicht über die Altreservenproblematik</h2>
<h3>4.1 Verbesserung der Rückerstattungsposition</h3>
<p>Ausgangspunkt der Altreservenproblematik ist stets eine Veränderung resp. Verbesserung im Umfang der Rückerstattungsberechtigung (sog. Regimewechsel).</p>
<p>Traditioneller Anwendungsfall der Altreservenpraxis ist die Konstellation, in welcher eine Beteiligung konzernintern von einer nicht oder nur beschränkt rückerstattungsberechtigten Gruppengesellschaft auf eine Gruppengesellschaft mit einer besseren Rückerstattungsposition übertragen wird.<a title="" href="#_ftn7" name="_ftnref7"><sup>07</sup></a></p>
<p>Beispiel: Die DBA-berechtigte M Inc. mit Sitz in den USA überträgt ihre Schweizer Tochtergesellschaft T AG auf ihre niederländische Tochtergesellschaft C BV. <a href="https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1999/223/de#art_10" target="_blank" rel="noopener">Art. 10 Abs. 2 lit. a DBA-USA</a> erlaubt in Bezug auf Dividendenausschüttungen eine verbleibende Sockelsteuerbelastung im Quellenstaat in Höhe von 5%. Demgegenüber sieht <a href="https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/2011/724/de#art_10" target="_blank" rel="noopener">Art. 10 Abs. 3 lit. a DBA-NL</a> eine vollständige Quellensteuerentlastung vor. Somit liegt eine Verbesserung der Rückerstattungsposition vor.</p>
<p><img src="https://images.ctfassets.net/bgpaxzxi3eyz/3k7GZV5gdomatFsimboCYW/c22fdcef1e5c73a1d2dccb01efb64959/A9_Band_2-2021_GrafikRZ16.png" alt="zsis zentrum schweizerisches und internationales steuerrecht tobias rohner selina many sitzverlegung schweiz altreservenpraxis" width="930" height="419" /></p>
<h3>4.2 Nichtbetriebsnotwenige, handelsrechtlich ausschüttbare Mittel</h3>
<p>Die Altreservenpraxis greift allerdings nur, sofern und soweit die übertragene Beteiligung zum Übertragungszeitpunkt resp. gemäss letztem handelsrechtlichem Jahresabschluss über ausschüttungsfähige Reserven verfügt, welchen eindeutig nicht betriebsnotwendige resp. liquide Mittel gegenüberstehen.</p>
<p>Die ausschüttungsfähigen Reserven müssen dabei latent verrechnungssteuerbelastet sein. Nicht darunter fallen somit KER.</p>
<p>Im Beispiel der T AG gestaltet sich das Bilanzbild gemäss letztem statutarischem Abschluss wie folgt:</p>
<p>Somit könnten bei der T AG 400 potenziell als Altreserven qualifizieren.<a title="" href="#_ftn8" name="_ftnref8"><sup>08</sup></a></p>
<p><img src="https://images.ctfassets.net/bgpaxzxi3eyz/7mOljrHepZ4ROFIHgpZeUw/b779fdd41b283c7b7183e6ad79cb1c78/A9_Band_2-2021_GrafikRZ21.png" alt="zsis zentrum schweizerisches und internationales steuerrecht tobias rohner selina many sitzverlegung schweiz altreservenpraxis" width="930" height="186" /></p><p>Dahinter verbirgt sich der Gedanke, dass eine Gesellschaft nicht betriebsnotwendige, handelsrechtlich ausschüttbare Mittel auszahlen könnte und sollte und ein davon abweichendes Verhalten nur dadurch erklärt werden kann, dass die Aktionärinnen (resp. deren Mehrheit<a title="" href="#_ftn9" name="_ftnref9"><sup>09</sup></a>) die Verrechnungssteuerbelastung vermeiden (umgehen) möchten.</p>
<h3>4.3 Steuerumgehungsvorbehalt als Grundlage der Altreservenpraxis</h3>
<h4>4.3.1 Allgemeine Grundlagen</h4>
<p>Bei der Altreservenpraxis handelt es sich nicht um einen gesetzlich normierten Tatbestand. Vielmehr gründet er auf dem Vorbehalt des Rechtsmissbrauchs resp. der Steuerumgehung. Für die Rückerstattungsberechtigung in unilateralen Sachverhalten ist er in Form des Steuerumgehungsvorbehalts in <a href="https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1966/371_385_384/de#art_21" target="_blank" rel="noopener">Art. 21 Abs. 2 VStG</a> explizit erwähnt. Weniger klar und entsprechend umstritten ist die Rechtsgrundlage im internationalen Verhältnis. Aus praktischer Sicht ist die rechtliche Grundlage des Steuerumgehungsvorbehalts bei der Prüfung der Rückerstattungsberechtigung allerdings in der Regel nicht von entscheidender Bedeutung, da gemäss Rechtsprechung die Merkmale einer Steuerumgehung im internationalen Verhältnis grundsätzlich dieselben sind.<a title="" href="#_ftn10" name="_ftnref10"><sup>10</sup></a></p>
<p>Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung wird eine Steuerumgehung bejaht, «wenn (a) eine von den Beteiligten gewählte Rechtsgestaltung als ungewöhnlich («insolite»), sachwidrig oder absonderlich, jedenfalls den wirtschaftlichen Gegebenheiten völlig unangemessen erscheint (objektives Element), wenn zudem (b) anzunehmen ist, dass die gewählte Rechtsgestaltung missbräuchlich lediglich deshalb getroffen wurde, um Steuern einzusparen, die bei sachgemässer Ordnung der Verhältnisse geschuldet wären (Umgehungsabsicht; subjektives Element), und wenn (c) das gewählte Vorgehen tatsächlich zu einer erheblichen Steuerersparnis führen würde, sofern es von der Steuerbehörde hingenommen würde (effektives Element).»<a title="" href="#_ftn11" name="_ftnref11"><sup>11</sup></a></p>
<p>Das Vorliegen einer Steuerumgehung ist jeweils einzelfallbezogen zu prüfen. Gemäss Bundesgericht kommt eine Steuerumgehung nur in ganz ausserordentlichen Situationen in Frage, wenn eine Rechtsgestaltung vorliegt, die - abgesehen von den steuerlichen Aspekten - jenseits des wirtschaftlich Vernünftigen liegt. Mithin bleibt die Annahme einer Steuerumgehung ausgeschlossen, wenn andere Gründe als blosse Steuerersparnisgründe bei der Rechtsgestaltung eine relevante Rolle spielen.<a title="" href="#_ftn12" name="_ftnref12"><sup>12</sup></a></p>
<h4>4.3.2 Besondere Grundlagen</h4>
<p>Neben dem generellen Missbrauchsvorbehalt, der gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung jedem DBA immanent ist, ist im Einzelfall sodann jeweils zu prüfen, ob das in Frage stehende DBA eine eigene, speziellere und gegebenenfalls weitergehende Missbrauchsregelung kennt.<a title="" href="#_ftn13" name="_ftnref13"><sup>13</sup></a> Dies war etwa der Fall im aDBA-USA in der Fassung von 1951, welches beim ersten höchstrichterlich beurteilten Altreservenfall aus dem Jahr 1996 einschlägig war. Dem Urteil<a title="" href="#_ftn14" name="_ftnref14"><sup>14</sup></a> lag im Wesentlichen der folgende Sachverhalt zugrunde:</p>
<p>Die schweizerische S. AG wurde von den in den USA ansässigen Gesellschaften W. Co und Q. Co gehalten, wobei die W. Co über 60% und die Q. Co. über 40% der Aktien hielten. W. Co und Q. Co waren vollständig im Besitz der in den USA ansässigen C. Co. Nachdem die S. AG ein Gesuch gegenüber der ESTV stellte, es sei auf Dividenden der S. AG der residuale Verrechnungssteuersatz von 5% anzuwenden, da die S. AG zu 100% von der C. Co beherrscht werde und dieses Gesuch abgelehnt wurde, wurden die Aktien der S. AG an die C. Co übertragen.</p>
<p>Art. VI Abs. 2 Satz 2 aDBA-USA (1951) lautete damals wie folgt:</p>
<blockquote>«Ist indessen der Aktionär eine Gesellschaft, die unmittelbar oder mittelbar über mindestens 95 Prozent der Stimmrechte in der dividendenzahlenden Gesellschaft verfügt, und stammen nicht mehr als 25 Prozent des Bruttoeinkommens der dividendenzahlenden Gesellschaft von andern Zinsen und Dividenden als den von ihren eigenen Tochtergesellschafen ausgerichteten, so soll der Steuersatz 5 Prozent nicht übersteigen. Die Herabsetzung des Steuersatzes auf 5 Prozent soll jedoch nicht Platz greifen, wenn die Verbindung der beiden Gesellschaften in erster Linie in der Absicht hergestellt worden ist oder beibehalten wird, um sich diesen Vorteil zu sichern.»</blockquote>
<p>Das Bundesgericht erwog, dass die Übertragung der Aktien der S. AG an die C. Co vorwiegend zum Zweck der Steuerermässigung erfolgt war, auch wenn nicht allein steuerliche Motive ausschlaggebend waren. Eine Rückerstattung der Verrechnungssteuer auf den bereits bestehenden Reserven sei daher durch den Wortlaut der Abkommensbestimmung ausgeschlossen.</p>
<p>Hingegen verneinte das Bundesgericht explizit das Vorliegen einer Steuerumgehung oder eines Missbrauchs mit der Begründung, ein absonderliches, dem wirtschaftlichen Sachverhalt nicht entsprechendes Verhalten könne in der erfolgten Umstrukturierung nicht erblickt werden.</p>
<p>Solche spezielleren Missbrauchsbestimmungen werden inskünftig mit Einführung des Principal-Purpose-Tests im Rahmen vieler neuverhandelten DBAs sowie durch Umsetzung des <a href="https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/2020/486/de" target="_blank" rel="noopener">BEPS-Übereinkommens</a> häufiger anzutreffen sein, wobei sich deren tatsächliche Tragweite in der Praxis noch zeigen müssen wird.<a title="" href="#_ftn15" name="_ftnref15"><sup>15</sup></a></p>
<h4>4.3.3 Tatsächliche Steuerersparnis (effektives Element)</h4>
<p>Auch wenn das effektive Element in der gebetsmühlenartig wiederholten bundesgerichtlichen Steuerumgehungsformel stets am Schluss genannt wird, stellt es eigentlich die «Einstiegsluke» für die Steuerumgehungs- resp. Missbrauchsprüfung dar.</p>
<p>Im Zusammenhang mit der Altreservenproblematik ist das effektive Element traditionell gegeben, wenn ein Regimewechsel, also eine Verbesserung der Rückerstattungsposition, sowie das entsprechende latent verrechnungssteuerbelastete Substrat vorliegt. Ohne einen solchen günstigen Regimewechsel erübrigt sich aus verrechnungssteuerlicher Sicht grundsätzlich die Altreservenprüfung.</p>
<h4>4.3.4 Absonderliches resp. missbräuchliches Verhalten (objektives Element)</h4>
<p>Bislang wurden nicht mehr als eine Handvoll Altreservefälle den Gerichten und insbesondere dem Bundesgericht zur Prüfung vorgelegt. Entsprechend schwierig gestaltet sich die klare Erfassung des als absonderlich resp. missbräuchlich einzustufenden Verhaltens, welches als objektives Element Voraussetzung einer jeden Steuerumgehung ist.</p>
<p>Immerhin kann gesagt werden, dass die publizierten Fälle, bei welchen eine Steuerumgehung bejaht wurde, stets mehr an sich hatten als bloss die Tatsache, dass eine Verbesserung der Rückerstattungsposition erfolgte. Eine potenzielle Veränderung der Rückerstattungsberechtigung ist nämlich jedem Aktionärswechsel inhärent. Hier ist eine klare Abgrenzung zur Prüfung des «effektiven» Elements der Steuerumgehung erforderlich.</p>
<p>Gewisse Schlüsse lassen sich insbesondere aus einem neueren <a href="https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/aza/http/index.php?highlight_docid=aza%3A%2F%2F20-04-2020-2C_354-2018&lang=de&type=show_document&zoom=YES&" target="_blank" rel="noopener">Urteil des Bundesgerichts vom 20. April 2020</a> ziehen.<a title="" href="#_ftn16" name="_ftnref16"><sup>16</sup></a> Der Fall betraf die Rückerstattungsberechtigung einer neuen Aktionärin (A.), welche ihre Beteiligung an einer Schweizer Gesellschaft (F.) von einer verbundenen Gesellschaft erworben hatte. Die F. verfügte zum Zeitpunkt der Übertragung über erhebliche liquide Mittel und handelsrechtlich ausschüttungsfähige Reserven. Der Beteiligungserwerb wurde grossmehrheitlich durch ein Darlehen der Muttergesellschaft der A. fremdfinanziert. Als Grund für den Beteiligungserwerb führte die A. wirtschaftliche Motive an, nämlich die Ansiedlung der Forschungs- und Entwicklungsfunktionen bei der A, in deren Bereich auch die F. tätig war.</p>
<p>Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass das von der A. geltend gemachte wirtschaftliche Ziel nicht erkläre, weshalb sie sich stark verschuldete, um mit diesem Fremdkapital letztlich die liquiden, latent verrechnungssteuerbelasteten Mittel der F. zu kaufen. Es wäre für alle Beteiligten wesentlich einfacher gewesen und hätte zum selben wirtschaftlichen Resultat geführt, wenn die F. diese Mittel stattdessen unmittelbar vor der Übertragung der Beteiligung an die bisherige Aktionärin ausgeschüttet hätte, die so an Stelle einer Kaufpreiszahlung einen Liquiditätszugang in Form einer Dividende verzeichnet hätte. Vor diesem Hintergrund erscheine der gewählte Weg als absonderlich und die Rechtsgestaltung als künstlich.<a title="" href="#_ftn17" name="_ftnref17"><sup>17</sup></a></p>
<p>In der Lehre wurde aus dem zitierten Urteil zuweilen der Schluss gezogen, dass das absonderliche resp. missbräuchliche Verhalten in der Thesaurierung der Gewinne zu erblicken ist.<a title="" href="#_ftn18" name="_ftnref18"><sup>18</sup></a> Diese Leseart erscheint aber aus Sicht der Autoren etwas verkürzt. Zwar ist die Gewinnthesaurierung durchaus ein gewichtiges Indiz. Als genauso entscheidend gewertet werden muss aber, dass die Erwerberin erhebliche Fremdmittel aufnehmen musste, um die Folgen dieser Gewinnthesaurierung stemmen zu können, obwohl in diesem Fall (anders als bei einer Dritttransaktion) kaum davon ausgegangen werden konnte, dass die veräussernde Gesellschaft im Rahmen einer konzerninternen Umstrukturierung den Verkauf ansonsten absagen würde. Mithin musste ohne Not eine weitere Partei (nahestehende Darlehensgeberin) involviert werden, um die Transaktion verwirklichen zu können; dies geschah sodann innerhalb desselben Konzerns.</p>
<p>Dafür, dass die Gewinnthesaurierung für sich alleine genommen noch nicht per se als absonderliches Verhalten einzustufen ist, spricht auch, dass das Bundesgericht im selben Urteil betont, dass das Vorliegen einer Steuerumgehung immer anhand der konkreten Umstände eines Einzelfalls zu beurteilen und nur in Ausnahmesituationen anzunehmen ist.<a title="" href="#_ftn19" name="_ftnref19"><sup>19</sup></a> So dürfte es gerade bei im Rahmen privater Vermögensverwaltung gehaltenen Gesellschaften relativ häufig vorgekommen sein, dass grössere Liquiditätsreserven aufgebaut wurden, da noch nicht klar war, ob und wie diese anderswo gerade besser hätten eingesetzt werden können. Entsprechend wurde mit der «Verschiebung» resp. Repatriierung der Mittel lieber zugewartet, da diese auch mit administrativem Zusatzaufwand verbunden gewesen wäre. Generell konnte die leichtfertige Repatriierung liquider Mittel aus der Schweiz sodann auch im Ausland zu von den Verrechnungssteuerfragen unabhängigen, unerwünschten Steuerfolgen führen (bspw. im Falle von US-amerikanische Konzernstrukturen, insbesondere vor der US-Steuerreform).</p>
<p>In seinem Urteil vom 16. August 1996 hielt das Bundesgericht explizit fest, dass keine Steuerumgehung resp. kein Missbrauch vorlag. Da das effektive Element (Steuerersparnis) sowie das subjektive Element (Absicht) gemäss gerichtlichen Feststellungen gegeben waren, kann nur gefolgert werden, dass das Bundesgericht in der vorangegangenen Gewinnthesaurierung und nachfolgenden Beteiligungsübertragung allein kein absonderliches Verhalten erblickte.</p>
<p>Zum selben Schluss führt ein Blick in die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts in mehreren Fällen:</p>
<ul>
<li>Das <a href="https://entscheide.weblaw.ch/cache.php?link=23-03-2010-a-2744-2008&sel_lang=de" target="_blank" rel="noopener">Urteil vom 23. März 2010</a><a title="" href="#_ftn20" name="_ftnref20"><sup>20</sup></a> betraf eine Haltestruktur, welche auf zwei unmittelbar aufeinanderfolgende Veräusserungen zurückzuführen war und in welchen eine Steuerumgehung resp. ein Abkommensmissbrauch letztlich bejaht wurde. In beiden Veräusserungsgeschäften hatte sich die Käuferschaft jeweils verpflichtet, die Zielgesellschaft in einen liquiden Zustand zu versetzen. Sodann hatte die Zielgesellschaft der neuen Muttergesellschaft kurz nach deren Erwerb ein Darlehen gewährt, welches rund 70% der Aktiven der Zielgesellschaft ausmachte.<a title="" href="#_ftn21" name="_ftnref21"><sup>21</sup></a></li>
<li>Im <a href="https://entscheide.weblaw.ch/cache.php?link=18-05-2016-A-5673-2015" target="_blank" rel="noopener">Urteil vom 18. Mai 2016</a><a title="" href="#_ftn22" name="_ftnref22"><sup>22</sup></a> ging es um eine Zielgesellschaft, welche durch eine Käufergesellschaft ohne eigene Liquidität erworben wurde. Zur Finanzierung des Kaufs gewährte die die Zielgesellschaft der Käufergesellschaft wenige Tage vor der Transaktion ein (unbesichertes) Darlehen, welches sich in vergleichbarer Höhe zum Kaufpreis bewegte. Das Urteil wurde durch das Bundesgericht bestätigt.<a title="" href="#_ftn23" name="_ftnref23"><sup>23</sup></a> Zu beachten ist, dass die Altreservenfrage im beschriebenen Urteil nicht abschliessend zu beurteilen war: Streitig war lediglich die Gewährung des Meldeverfahrens, für dessen Verweigerung bereits Anhaltspunkte für eine Steuerumgehung resp. einen Abkommensmissbrauch ausreichen. Dies hat das Bundesverwaltungsgericht bejaht. Ein eigentlicher Nachweis der Steuerumgehung war in diesem Verfahrensstadium hingegen noch nicht erforderlich.</li>
<li>Im <a href="https://entscheide.weblaw.ch/cache.php?link=31-08-2016-A-5692-2015" target="_blank" rel="noopener">Urteil vom 31. August 2016</a><a title="" href="#_ftn24" name="_ftnref24"><sup>24</sup></a> behandelte das Bundesverwaltungsgericht einen Fall, in welchem die zypriotische Aktionärin der Zielgesellschaft durch deren im Ausland ansässigen wirtschaftlich Berechtigten X. veräussert worden war, wobei die besagte zypriotische Aktionärin die Aktien der Zielgesellschaft kurz danach zum Nominalwert an eine andere, estnische Gesellschaft von X. verkaufte. Als die Zielgesellschaft in Bezug auf Dividenden an die neue estnische Aktionärin das Meldeverfahren beantragte, erwog das Bundesverwaltungsgericht wiederum, dass zumindest Indizien für eine Steuerumgehung resp. einen Abkommensmissbrauch bestünden.</li>
<li>In einem neueren <a href="https://jurispub.admin.ch/publiws/download?decisionId=054c5b06-fbff-426a-93e8-05f5cad6f91c" target="_blank" rel="noopener">Urteil vom 1. Dezember 2020</a><a title="" href="#_ftn25" name="_ftnref25"><sup>25</sup></a> wurde das Vorliegen einer Steuerumgehung resp. eines Abkommensmissbrauchs trotz vorhandener Altreserven verneint. Dabei ging es um eine Gesellschaft, welche eine schweizerische Käufergesellschaft von einem nicht abkommensberechtigten ausländischen Aktionär erworben hatte. Der Kauf wurde fremdfinanziert. Fünf Jahre später schüttete die Zielgesellschaft eine Dividende aus, wobei die ESTV die Verrechnungssteuerentlastung verweigerte. Das Bundesverwaltungsgericht hiess die hiergegen gerichtete Beschwerde gut und bejahte die Rückerstattungsberechtigung. So erkannte es einerseits, dass der Erwerb der schweizerischen Gesellschaft in das Expansionsmodell der neuen Aktionärin passte. Sodann sei eine lange Zeitspanne zwischen Erwerb und Dividendenausschüttung vergangen. Schliesslich habe die ESTV auch nicht aufzeigen können, inwiefern die Fremdfinanzierung vorliegend ungewöhnlich sei oder inwiefern bei der (vorliegend unabhängigen Dritt-) Erwerberin eine Absicht der Steuerersparnis vorliege.<a title="" href="#_ftn26" name="_ftnref26"><sup>26</sup></a></li>
</ul>
<p>Zusammengefasst zeigt die Rechtsprechung, dass die Gewinnthesaurierung für sich betrachtet noch kein absonderliches Verhalten darstellt. Vielmehr gab es stets hinzutretende Elemente, welche in aussergewöhnlichen Fällen den Ausschlag zur Annahme eines absonderlichen Vorgehens gaben.</p>
<h4>4.3.5 Absicht der Steuerersparnis (subjektives Element)</h4>
<p>Das subjektive Element erweist sich insofern als entscheidend, als die Annahme einer Steuerumgehung ausgeschlossen bleibt, wenn andere als blosse Steuerersparnisgründe bei der Rechtsgestaltung eine relevante Rolle spielen.<a title="" href="#_ftn27" name="_ftnref27"><sup>27</sup></a> Ob jemandem eine entsprechende Absicht vorzuwerfen ist, muss naturgemäss anhand objektiver Gegebenheiten (Indizien) ermittelt werden.<a title="" href="#_ftn28" name="_ftnref28"><sup>28</sup></a></p>
<p>Fraglich erscheint, ob rein aufgrund eines längeren Zuwartens mit der Ausschüttung von nicht (unmittelbar) betriebsnotwendigen Liquiditätsreserven auf eine Steuerumgehungsabsicht geschlossen werden darf. Dass ein längeres Zuwarten mit einer Ausschüttung von Liquiditätsreserven durchaus auch wirtschaftlich gerechtfertigt sein kann, zeigen neben den voranstehend aufgezeigten Gründen nicht zuletzt die staatlich verbürgten COVID-Kredite, deren Einführung pandemiebedingt notwendig wurde. Die ESTV scheint in ihrer Praxis (im Rahmen der Prüfung des Vorhandenseins von Altreserven) zwar die Berechtigung von Liquiditätsreserven für zukünftige Ausgaben zwar durchaus anzuerkennen. Dem Vernehmen nach verlangt sie hierfür allerdings die Vorlage konkreter Planungsdokumentationen.<a title="" href="#_ftn29" name="_ftnref29"><sup>29</sup></a> Angesichts der verfassungsrechtlich garantierten Wirtschaftsfreiheit und nicht zuletzt auch aufgrund der Tatsache, dass die ESTV für die Annahme einer Steuerumgehung resp. eines Missbrauchs beweisbelastet ist, erscheint dieser Ansatz jedoch problematisch.</p>
<p>Sodann ist nach Auffassung der Autoren stets zu prüfen, wer wirtschaftlich betrachtet von der eingesparten Verrechnungssteuerbelastung profitieren würde. Nur bei einer solchen Partei kann normalerweise überhaupt von einer Absicht der Steuerersparnis gesprochen werden. Insbesondere in Zusammenhang mit Dritttransaktionen dürfte daher die von der ESTV sehr extensiv angewandte Altreservenpraxis in der Regel nicht greifen, sofern nicht zusätzliche eindeutige Indizien dafür sprechen, dass die erwerbende Partei gerade auch zu Steuerersparniszwecken der veräussernden Partei an einer absonderlichen Gestaltung teilgenommen hat. Dass zum Beteiligungserwerb allenfalls auch eine (externe) Fremdfinanzierung eingeholt werden muss, ist in dieser Konstellation für sich genommen nicht ausreichend, wie das Bundesverwaltungsgericht in seinem <a href="https://jurispub.admin.ch/publiws/download?decisionId=054c5b06-fbff-426a-93e8-05f5cad6f91c" target="_blank" rel="noopener">Urteil vom 1. Dezember 2020</a> festgehalten hat.<a title="" href="#_ftn30" name="_ftnref30"><sup>30</sup></a> Für den unabhängigen Dritterwerber bietet sich nämlich weder individuell noch innerhalb des Konzerns ein steuerlicher Vorteil durch ein solches Vorgehen. Es ist insofern nicht ersichtlich, wieso ein aussenstehender Dritterwerber letztlich im Verhältnis zur ESTV eine Verrechnungssteuerbelastung tragen soll, die er weder verursacht noch selbst zu vermeiden beabsichtigt hat.<a title="" href="#_ftn31" name="_ftnref31"><sup>31</sup></a></p>
<h3>4.4 Folge der Altreservenpraxis</h3>
<p>Sofern tatsächlich eine Steuerumgehung resp. ein Abkommensmissbrauch aufgrund vorhandener Altreserven vorliegt, verweigert die ESTV traditionell so lange die Verrechnungssteuerrückerstattung im Umfang der Satzverbesserung, bis die bestehenden Altreserven ausgeschüttet sind.<a title="" href="#_ftn32" name="_ftnref32"><sup>32</sup></a> Danach gewährt sie die angestrebte Rückerstattung, sofern die üblichen Voraussetzungen erfüllt sind.</p>
<p>In Bezug auf Entlastungsanträge basierend auf <a href="https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/2005/444/de#art_9" target="_blank" rel="noopener">Art. 9 des Abkommens über den automatischen Informationsaustausch über Finanzkonten zur Förderung der Steuerehrlichkeit bei internationalen Sachverhalten mit der EU</a> (AIA-A EU)<a title="" href="#_ftn33" name="_ftnref33"><sup>33</sup></a> hat das Bundesgericht in seinem <a href="https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/aza/http/index.php?highlight_docid=aza%3A%2F%2F20-04-2020-2C_354-2018&lang=de&type=show_document&zoom=YES&" target="_blank" rel="noopener">Urteil vom 20. April 2020</a><a title="" href="#_ftn34" name="_ftnref34"><sup>34</sup></a> in Anlehnung an die Rechtsprechung des EuGH allerdings entschieden, dass diesbezüglich die Entlastung auf bestehenden Altreserven nicht nur im Umfang der Satzverbesserung sondern vollständig zu verweigern ist. Die Tragweite dieses Urteils erstreckt sich aber (zumindest bisher) lediglich auf Fälle unter dem AIA-A EU. In Bezug auf DBA-Sachverhalte bleibt die Entlastungsverweigerung durch die ESTV auf die tatsächliche Satzverbesserung beschränkt.<a title="" href="#_ftn35" name="_ftnref35"><sup>35</sup></a> Dasselbe dürfte auch auf internrechtliche Konstellationen (<a href="https://www.fedlex.admin.ch/eli/cc/1966/371_385_384/de#art_21" target="_blank" rel="noopener">Art. 21 Abs. 2 VStG</a>) zutreffen.</p>
<h2>5. Schlussfolgerungen für den Praxisfall</h2>
<p>Wie bereits in Abschnitt 3 vorstehend ausgeführt, dürfte es bei Immigrationen mangels steuerlicher Erfassung der importierten Reserven von Vornherein keine Altreservenfälle geben.</p>
<p>Doch selbst wenn man der hier vertretenen steuersystematischen Auslegeordnung nicht folgen wollte, darf der Sinn und Zweck von Missbrauchsvorbehalten jeglicher Art nicht aus den Augen verloren werden: Sie stellen lediglich einen «last resort» dar, um den eindeutig nicht vom Gesetzgeber beabsichtigten Entzug von Steuersubstrat zu verhindern. Die Rechtsprechung zeigt eindrücklich, dass eine Steuerumgehung resp. ein Rechtsmissbrauch in Zusammenhang mit Altreserven nur in Ausnahmesituationen angenommen werden darf. Entsprechend geht die Ausweitung der Steuerumgehungsdoktrin auf importierte Reserven entschieden zu weit.</p>
<p>Dies gilt umso mehr für Fälle wie den Vorliegenden, bei dem der Sitz der Gesellschaft im Rahmen einer grösseren Umstrukturierung in die Schweiz verlegt wurde. Ziel dieser war, die europäischen Gesellschaften unter eine in den Niederlanden ansässige Zwischenholding zu bringen. Dass zunächst überhaupt eine (finale) latente Verrechnungssteuerbelastung geschaffen wurde, indem zuerst eine Sitzverlegung in die Schweiz beschlossen wurde, war eher zufällig bzw. transaktional bedingt. Es ist nicht ersichtlich, inwiefern bewusst (d.h. absichtlich) zuerst Gewinne thesauriert und sodann der schweizerischen Verrechnungssteuer in missbräuchlicher Weise entzogen worden wären.<sup><a title="" href="#_ftn36" name="_ftnref36">36</a></sup> Sodann kam hier auch kein weiteres Element hinzu, welches auf eine Steuerumgehung hindeuten könnte, wie etwa eine kurzfristige Ausschüttung oder eine ungewöhnliche Fremdfinanzierung der Transaktion. Eine Verweigerung der vollständigen Verrechnungssteuerentlastung wäre damit ausgeschlossen.</p></article>
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