Nichtigkeit von Ermessensveranlagungen
Mit seinem neuesten Entscheid vom 19. August 2024 (9C_673/2023), publiziert am 25. September 2024, bestätigt und präzisiert das Bundesgericht seine Praxis zur Nichtigkeit von Ermessensveranlagungen.
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Das Bundesgericht befasst sich im besprochenen Urteil mit einem Fall eines pensionierten Ehepaares, deren Ermessensveranlagung jedes Jahr systematisch erhöht wurde.
Das Bundesgericht hält zunächst fest, dass nur diejenige Behörde, die mit der Sache befasst sei, jederzeit, die Nichtigkeit einer Entscheidung von Amtes wegen beachten muss. Im vorliegenden Fall war die Ausdehnung des Anfechtungs- und damit des Streitgegenstands der angefochtenen Steuerjahre 2010 bis 2012 unzulässig. Weder die Steuerrekurskommission noch das Verwaltungsgericht waren befugt, die Nichtigkeit der Revisionsentscheide für diese Jahre festzustellen. Diese Kompetenzüberschreitung wird als offensichtliche und gravierende Rechtsverletzung angesehen, die zur Nichtigkeit des Entscheides der Vorinstanz führt.
Die Ermessensveranlagungen der Steuerjahre 2006 bis 2009 werden vom Bundesgericht als nichtig erklärt, da die Steuerfaktoren systematisch und ohne Indizien für eine tatsächliche Veränderung erhöht wurden. Es präzisiert, dass eine Veranlagung dann nichtig ist, wenn neben einer qualifizierten inhaltlichen Unrichtigkeit zusätzlich eine gravierende verfahrensrechtliche Verfehlung hinzutritt. Im vorliegenden Fall erkennt das Gericht einen Missbrauch, da die Steuerbehörde die Erhöhungen als Strafe für das Nicht-Einreichen der Steuererklärung verwendete, was gesetzeswidrig sowie grund- und menschenrechtsverletzend sei.
Zitiervorschlag:
Bruno Rieder
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Nichtigkeit von Ermessensveranlagungen
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in zsis)
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[...]
(abrufbar unter: publ.zsis.ch/A
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2024
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<article class="rz"><p>Mit seinem neuesten Entscheid vom 19. August 2024 (9C_673/2023), publiziert am 25. September 2024, bestätigt und präzisiert das Bundesgericht seine Praxis zur Nichtigkeit von Ermessensveranlagungen.</p>
<h2>1. Sachverhalt und Instanzenzug</h2>
<p>Das Bundesgericht hatte folgenden Sachverhalt zu beurteilen. Ein langjähriger Mitarbeiter des diplomatischen Dienstes liess sich im Jahr 2022 früh pensionieren. Seine um sieben Jahre ältere Ehegattin war nicht erwerbstätig und hatte das ordentliche Rentenalter bereits erreicht.</p>
<p>Das Rentnerehepaar hat keine Steuererklärungen eingereicht, weshalb die Steuerverwaltung des Kantons Bern die Ehegatten in den folgenden Jahren nach Ermessen einschätzte. Konkret wurden sie im Steuerjahr 2005 mit einem steuerbaren Einkommen von CHF 250'000 und einem steuerbaren Vermögen von CHF 4 Mio. eingeschätzt. Dies entsprach ziemlich genau den effektiven Steuerfaktoren. Bereits für das Steuerjahr 2006 hat die Steuerverwaltung ihre Ermessensveranlagung drastisch erhöht und das steuerbare Einkommen auf CHF 400'000 und das steuerbare Vermögen auf CHF 6.2 Mio. festgesetzt. Nachdem die Ehegatten auch in den folgenden Jahren keine Steuererklärungen eingereicht haben, erhöhte die Steuerverwaltung ihre Ermessensveranlagungen jedes Jahr systematisch, so dass für das Steuerjahr 2012 ein steuerbares Einkommen von CHF 630'000 und ein steuerbares Vermögen von 8.5 Mio. für das Rentnerehepaar resultierte.</p>
<p>Gegen diese Ermessensveranlagungen haben sich die Steuerpflichtigen nicht gewehrt und die Steuerverwaltung hat die darauf basierenden Steuern mittels Zwangsvollstreckungen in den Jahren 2006, 2009 und 2010 eingezogen.</p>
<p>Die Ermessensveranlagungen der Jahre 2010 bis 2012 wurden auf Intervention der in der Zwischenzeit mandatierten Anwaltskanzlei seitens der Steuerverwaltung revidiert. Gegen die nicht revidierten Ermessensveranlagungen der Jahre 2006 bis 2009 wurde eine Nichtigkeitsbeschwerde eingereicht, welche von der kantonalen Steuerverwaltung, der Steuerrekurskommission sowie des Verwaltungsgerichts vollumfänglich abgewiesen wurden. Damit nicht genug, sowohl die Steuerrekurskommission als auch das Verwaltungsgericht hoben die von der Steuerverwaltung revidierten Steuerveranlagungen der Jahre 2010 bis 2012 wegen Nichtigkeit auf und beurteilten die ursprünglichen Ermessensveranlagungen als rechtmässig. Dies, obwohl die revidierten Steuerveranlagungen 2010 bis 2012 zu keinem Zeitpunkt von den Steuerpflichtigen angefochten worden sind und damit nicht zum Anfechtungsobjekt und demzufolge auch nie zum Streitgegenstand gehörten. Die Vorinstanzen begründeten dieses Vorgehen im Wesentlichen damit, dass die Nichtigkeit einer Verfügung von jeder Behörde jederzeit festgestellt werden könne.</p>
<h2>2. Entscheid des Bundesgerichts</h2>
<h3>2.1 Bezugnahme auf bestehende Praxis</h3>
<p>Das Bundesgericht verweist zunächst auf seine eigene bisherige Rechtsprechung und hält präzisierend fest, dass nur diejenige Behörde, die mit der Sache befasst sei, jederzeit und von Amtes wegen, die Nichtigkeit einer Entscheidung zu beachten habe. Eine Behörde sei mit einer Sache in den folgenden Fällen befasst:<sup><a title="" href="#_ftn1" name="_ftnref1">01</a></sup></p>
<ul style="list-style-type: square;">
<li>Wenn sie für den ergangenen Rechtsakt verantwortlich ist, jedenfalls solange sie nicht an eine Rechtsmittelinstanz weitergezogen oder von dieser bereits materiell beurteilt worden ist.<sup><a title="" href="#_ftn2" name="_ftnref2">02</a></sup></li>
<li>Wenn sie mit einem zulässigen Rechtsmittel gegen den nichtigen Entscheid angerufen wird.<sup><a title="" href="#_ftn3" name="_ftnref3">03</a></sup></li>
<li>Wenn sie die Frage der Nichtigkeit des angefochtenen Rechtsaktes vorfrageweise prüfen muss.<sup><a title="" href="#_ftn4" name="_ftnref4">04</a></sup></li>
<li>Wenn ihr eine Aufsichtsfunktion über die Urheberin des angefochtenen Rechtsaktes zukommt und die Feststellung der Nichtigkeit von ihren Aufsichtskompetenzen gedeckt ist.<sup><a title="" href="#_ftn5" name="_ftnref5">05</a></sup></li>
</ul>
<p>Im konkreten Fall kommt das Bundesgericht in Anwendung dieser Rechtsprechung zum Schluss, dass die Ausdehnung des Anfechtungs- und damit auch des Streitgegenstandes der angefochtenen Steuerjahre 2006 bis 2009 auf die Steuerjahre 2010 bis 2012 ausserhalb eines hängigen Rechtsmittels unzulässig war.<sup><a title="" href="#_ftn6" name="_ftnref6">06</a></sup> In klaren Worten führt das Bundesgericht diesbezüglich aus, dass weder die Steuerrekurskommission noch das Verwaltungsgericht funktionell für die Beurteilung und Feststellung der Nichtigkeit der Revisionsentscheide 2010 bis 2012 zuständig gewesen seien, diese Zuständigkeitsmängel schwer lägen und diese Kompetenzüberschreitungen auch unter dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben höchst bedenklich seien. Diese offensichtliche und gravierende Rechtsverletzung ziehe nicht bloss die Anfechtbarkeit des Entscheides der Vorinstanz betreffend die Steuerperioden 2010 bis 2012 nach sich, sondern deren Nichtigkeit.<sup><a title="" href="#_ftn7" name="_ftnref7">07</a></sup></p>
<p>Bezüglich der vom Steuerpflichtigen und seiner Ehefrau angefochtenen Ermessensveranlagungen der Steuerjahre 2006 bis 2009 kommt das Bundesgericht zum Schluss, diese seien nichtig.<sup><a title="" href="#_ftn8" name="_ftnref8">08</a></sup></p>
<p>In seiner Begründung nimmt das Bundesgericht Bezug auf seine bisherige Rechtsprechung zur Nichtigkeit von Ermessensveranlagungen, insbesondere auf einen Entscheid aus dem Jahre 2017<sup><a title="" href="#_ftn9" name="_ftnref9">09</a></sup>. Dort bezeichnete es die Ermessensveranlagungen, mit denen die Steuerbehörde die Steuerfaktoren einer Steuerpflichtigen – wie im vorliegenden Fall – systematisch von Jahr zu Jahr immer massiver erhöht hatte, ohne dass Indizien für eine tatsächliche Erhöhung vorlagen als offensichtlich unrichtig, da diese Erhöhung soweit ersichtlich ausschliesslich pönale bzw. fiskalische Gründe hatte. Das Bundesgericht qualifizierte diejenigen Ermessensveranlagungen als nichtig, die von der Steuerverwaltung nach Erhalt der Pfändungsunterlagen vorgenommen wurden. Angesichts der gegenteiligen Informationen über die Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Steuerpflichtigen hätte die Steuerverwaltung ihre Schätzung als krass daneben einstufen und nach unten korrigieren müssen, anstatt sie weiter zu erhöhen.<sup><a title="" href="#_ftn10" name="_ftnref10">10</a></sup></p>
<h3>2.2 Präzisierung der Rechtsprechung</h3>
<p>Das Bundesgericht kommt im vorliegenden Fall zum gleichen Ergebnis, präzisiert jedoch gegenüber der bisherigen Rechtsprechung seine Begründung. So hält es zunächst fest, dass die Begrifflichkeiten «krasse» bzw. «durch nichts zu rechtfertigende» willkürliche Ermessensveranlagungen nichts zur Klärung beitragen, weshalb zukünftig darauf verzichtet werden könne.<sup><a title="" href="#_ftn11" name="_ftnref11">11</a></sup> Eine Ermessensveranlagung sei jeweils dann als nichtig zu betrachten, wenn zur qualifizierten inhaltlichen Unrichtigkeit eine gravierende verfahrensrechtliche Verfehlung hinzutritt. Eine solche gravierende verfahrensrechtliche Verfehlung erkennt das Bundesgericht, «wenn die Veranlagungsbehörde [...] die Ermessensveranlagungen dazu missbraucht, die steuerpflichtige Person dafür zu bestrafen, dass sie keine Steuererklärung eingereicht oder sonst im Veranlagungsverfahren ungenügend mitgewirkt hat».<sup><a title="" href="#_ftn12" name="_ftnref12">12</a> </sup>Von einem solchen unzulässigen Strafmotiv sei dann auszugehen, so das Bundesgericht präzisierend, «wenn die Veranlagungsbehörde die Steuerfaktoren einer steuerpflichtigen Person ohne nähere Begründung von Jahr zu Jahr erhöht, obschon ihr nicht nur kein Anhaltspunkt für eine gestiegene wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, sondern im Gegenteil ein Anhaltspunkt dafür vorliegt, dass ihre bisherigen Schätzungen zu hoch ausgefallen sind».<sup><a title="" href="#_ftn13" name="_ftnref13">13</a></sup></p>
<p>Die Ermessensveranlagung dient nach dem klaren Wortlaut, der Gesetzessystematik und ständiger Rechtsprechung nicht der Bestrafung. Vielmehr soll sie die tatsächlichen Verhältnisse, insbesondere die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der steuerpflichtigen Person, so genau wie möglich wiederspiegeln. Wird dieses Instrument jedoch von den Veranlagungsbehörden missbräuchlich eingesetzt, um durch übersetzte und unbegründete Erhöhungen die Pflichtverletzung der steuerpflichtigen Person repressiv zu sühnen oder sie spezialpräventiv zu einer besseren Mitwirkung in Folgeperioden zu bewegen, stuft das Bundesgericht ein solches nicht bloss als gesetzeswidrig, sondern als grund- und menschenrechtsverletzend ein.<sup><a title="" href="#_ftn14" name="_ftnref14">14</a></sup> Mit diesem Leitentscheid nimmt das Bundesgericht unmissverständlich Stellung zu einer bisher gängigen Veranlagungspraxis vieler Steuerämter, wonach Steuerpflichtige, die über mehrere Jahre ermessensweise veranlagt werden, systematisch von Jahr zu Jahr ohne klare Indizien für eine Steigerung ihrer Steuerfaktoren und trotz gegenteiliger Informationen höher besteuert werden.</p>
<p>Dieses Vorgehen ist gemäss dem vorliegenden höchstrichterlichen Entscheid missbräuchlich, gesetzeswidrig sowie grund- und menschenrechtsverletzend und führt bei gleichzeitiger offensichtlicher inhaltlicher Unrichtigkeit der Ermessensveranlagungen zu deren Nichtigkeit.</p>
<p>Der Praxis dient dieses Urteil als hilfreiche Präzisierung der Voraussetzungen für die Nichtigkeit einer Ermessensveranlagung und zugleich als Ermahnung an die Steuerbehörden, auch bei der Vornahme von Ermessensveranlagungen sich von der mutmasslichen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit leiten zu lassen.</p></article>
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