1. Geltungsbereich von Art. 23 Abs. 2 VStG i.V.m. Art. 70d VStG
Der neue Art. 23 VStG zur Verwirkung der Rückerstattung der Verrechnungssteuer und das diesbezügliche Übergangsrecht, Art. 70d VStG, sind seit dem 1. Januar 2019 in Kraft. Nach Art. 23 Abs. 2 VStG tritt die Verwirkung nicht ein, wenn die Einkünfte oder Vermögen in der Steuererklärung fahrlässig nicht angegeben wurden und in einem noch nicht rechtskräftig abgeschlossenen Veranlagungs-, Revisions- oder Nachsteuerverfahren nachträglich angegeben werden oder von der Steuerbehörde aus eigener Feststellung zu den Einkünften oder Vermögen hinzugerechnet werden.
Art. 23 Abs. 2 VStG gilt für Ansprüche, die seit dem 1. Januar 2014 entstanden sind, sofern über den Anspruch auf Rückerstattung der Verrechnungssteuer noch nicht rechtskräftig entschieden worden ist. Damit wird an die frühere Praxis des Bundesgerichts vor Einführung des Kreisschreibens EStV Nr. 40, das seit dem 1. Januar 2014 in Kraft war, angeknüpft. 01 Gemäss dieser früheren Praxis konnte ein Steueramt eine versehentlich nicht deklarierte Dividende im Veranlagungsverfahren aufrechnen und der steuerpflichtigen Person die Rückerstattung der Verrechnungssteuer gewähren.
Seit dem 1. Januar 2019 kann eine steuerpflichtige Person nun Art. 23 Abs. 2 i.V.m. Art. 70d VStG geltend machen und verwirkt die Rückerstattung nicht, wenn sie eine Dividende02 einer Schweizer Kapitalgesellschaft versehentlich nicht im Wertschriftenverzeichnis des Fälligkeitsjahres (ab 2014) deklarierte und die kantonale Steuerbehörde diese aufrechnete, weil sie das Versehen feststellte.
War das kantonale Verrechnungssteueramt in den letzten Jahren kulant und wandte die oben beschriebene frühere Praxis an, wurde die steuerpflichtige Person rechtskräftig für die Einkommenssteuer veranlagt und erhielt den Verrechnungssteuerbetrag zurück. Beurteilte die EStV in der Überprüfung der Abrechnung des jeweiligen Kantons03 den Fall anders, ordnete sie eine Kürzung des Anspruchs des Kantons an.04 Eine solche Kürzung hat die EStV innerhalb von drei Jahren seit Ende des Kalenderjahres, in dem der Entscheid des Verrechnungssteueramts über die Rückerstattung rechtskräftig geworden ist, anzuordnen.05 Der Kanton konnte (resp. kann) seinerseits die Rückleistung der Verrechnungssteuer von der steuerpflichtigen Person verlangen.06 Geschah dies für Dividenden, die nach dem 1. Januar 2014 fällig wurden, stellt sich für die steuerpflichtige Person die Frage: Kann sie die Übergangsbestimmung ebenfalls geltend machen, um nicht nachträglich die Verrechnungssteuer wieder zurückerstatten zu müssen? Könnte sie dies nicht, müsste eine steuerpflichtige Person die Verrechnungssteuer, die der veranlagende Kanton unter Anwendung der früheren Praxis rückerstattete, notabene jener, zu der der Gesetzgeber mit der neuen Gesetzesbestimmung zurückkehren wollte, wiederum an den Kanton zurückerstatten. Diese steuerpflichtige Person würde schlechter gestellt als eine Person, bei der das Rückerstattungsverfahren noch nicht soweit fortgeschritten ist.
Der Wortlaut von Art. 23 Abs. 2 VStG i.V.m. Art. 70d VStG beantwortet diese Frage nicht offensichtlich.
2. Urteil des Bundesgerichts vom 12. September 2019
Die vorgenannte Frage hat nun das Bundesgericht in seinem Urteil vom 12. September 201907 in Auslegung des Wortlauts in einem Thurgauer Fall beantwortet. Und bejaht.
Die Vorinstanz, die Steuerrekurskommission des Kantons Thurgau, hatte die gleiche Frage in ihrem Urteil vom 8. April 2019 verneint.
Worum geht es? Das Ehepaar, A. und B., war Eigentümer sämtlicher Aktien der X AG mit Sitz im Kanton Thurgau. Die Gesellschaft wurde am 7. Juni 2016 aus dem Handelsregister des Kantons Thurgau gelöscht. Aus der Liquidation der Gesellschaft resultierte eine Liquidationsdividende von CHF 142‘526. Diese Liquidationsdividende wurde von der Gesellschaft mit Formular 102 korrekt deklariert und die Verrechnungssteuer abgerechnet. Im Wertschriften- und Guthabenverzeichnis der Steuererklärung 2016 deklarierte das Ehepaar „X AG, Aktie; Datum Abgang, Anzahl gehaltener Aktien bei Abgang, Aktienrückgabe (direkte Teilliquidation)“ mit einem Steuerwert von CHF Null. Die Liquidationsdividende von CHF 142‘526 führte es im dafür vorgesehenen Feld „Bruttoertrag 2016“ nicht auf.
Das Gemeindesteueramt der Wohnsitzgemeinde bemerkte im Veranlagungsverfahren die unvollständige Deklaration, forderte beim Ehepaar zusätzliche Unterlagen ein und rechnete die Liquidationsdividende von CHF 142‘526 in den definitiven Veranlagungen zu den Staats- und Gemeindesteuern 2016 sowie zur direkten Bundessteuer vom 24. November 2017 auf. Die Verrechnungssteuer von CHF 49‘884.10 wurde dem Ehepaar am 1. Dezember 2017 zurückerstattet.
Mit Kürzungsverfügung vom 1. Mai 2018 wies die EStV die Steuerverwaltung des Kantons Thurgau nach einer Überprüfung darauf hin, dass gestützt auf Art. 58 Abs. 1 VStG vom Ehepaar eine Rückleistung der Verrechnungssteuer in der Höhe von CHF 49‘884.10 verlangt werden könne.
Mit Rückleistungsentscheid vom 7. Juni 2018 forderte die Steuerverwaltung des Kantons Thurgau das Ehepaar auf, die Verrechnungssteuer zurückzuzahlen.
Das Ehepaar liess fristgerecht Beschwerde gegen den Rückleistungsentscheid erheben und beantragte, dass der Rückleistungsentscheid aufzuheben bzw. bis zur Inkraftsetzung des geänderten VStG zu sistieren sei.
Die Steuerrekurskommission des Kantons Thurgau wies die Beschwerde am 8. April 2019 im Wesentlichen mit der Begründung ab, dass der mit der Veranlagungsverfügung verbundene Entscheid über den Rückerstattungsanspruch unangefochten geblieben und in Rechtskraft erwachsen sei. Damit sei der Anspruch auf Rückerstattung der Verrechnungssteuer rechtskräftig entschieden worden. Gestützt auf Art. 70d VStG sei daher der mittlerweile in Kraft getretene Art. 23 Abs. 2 VStG von vornherein nicht anwendbar.
Das Ehepaar nahm den Entscheid der Thurgauer Steuerrekurskommission nicht hin und liess Beschwerde ans Bundesgericht i.S.v. Art. 58 Abs. 2 VStG i.V.m. Art. 56 VStG erheben. Es liess geltend machen, dass die Gesetzesänderung per 1. Januar 2019 für Fälle von Art. 57 Abs. 3 VStG (Kürzung des Verrechnungssteueranspruchs eines Kantons) und Art. 58 VStG (Aufforderung zur Rückleistung) keine Übergangsbestimmung analog zu Art. 70d VStG enthalte. Darauf sei schon in der Vernehmlassung hingewiesen worden.08 Dadurch sei eine echte Lücke entstanden, die zu einer Ungleichbehandlung von steuerpflichtigen Personen führe und vom Gesetzgeber so nicht gewollt sei. Die Ungleichbehandlung liege im Folgenden begründet:
Steuerpflichtige Personen, die verrechnungssteuerpflichtiges Einkommen fahrlässig nicht deklariert haben, bei denen die zuständige Steuerbehörde das Einkommen jedoch im Veranlagungsverfahren aufgerechnet hat, können eine Rückerstattung der Verrechnungssteuer aufgrund von Art. 23 Abs. 2 lit. b VStG i.V.m. Art. 70d VStG verlangen, soweit der Rückerstattungsanspruch nach dem 31. Dezember 2013 entstanden ist und darüber noch nicht rechtskräftig entschieden worden ist.
Hat eine kantonale Steuerbehörde hingegen unter Anwendung der bis Ende Dezember 2013 angewandten Praxis fahrlässig nicht deklariertes Einkommen bei einer steuerpflichtigen Person aufgerechnet und die Verrechnungssteuer aufgrund einer rechtskräftigen Veranlagung zurückerstattet, soll dieser steuerpflichtige Person die Rückerstattung der Verrechnungssteuer nun verwehrt werden, falls die EStV nach einer Kontrolle den Verrechnungssteueranspruch des betreffenden Kantons gekürzt hat und die steuerpflichtige Person darauf gestützt vom Kanton aufgefordert worden ist, die Verrechnungssteuer zurückzuzahlen.
Das Ehepaar hatte gegen seine Veranlagungsverfügung vom 24. November 2017 kein Rechtsmittel ergriffen und auch nicht ergreifen müssen, da sein Einkommen richtig veranlagt und die Rückerstattung der Verrechnungssteuer gewährt worden war. Die EStV prüfte erst später, am 12. Januar 2018, also nach Ablauf der Rechtsmittelfrist, die Veranlagungsverfügung und erliess am 1. Mai 2018 eine Kürzungsverfügung. Das Ehepaar konnte also im Zeitpunkt der Veranlagungsverfügung noch gar nicht wissen, dass die gewährte Rückerstattung dereinst widerrufen würde.
Das Ehepaar wurde dadurch, dass bei der Änderung des Verrechnungssteuergesetzes keine Übergangsbestimmung mit Bezug auf Art. 57 und 58 VStG eingeführt worden ist, gegenüber steuerpflichtigen Personen, die sich auf Art. 23 Abs. 2 lit. b VStG i.V.m. Art. 70d VStG berufen können, nicht nur ungleich behandelt, sondern schlechter gestellt als diese.
Die geltend gemachte echte Gesetzeslücke, nämlich das Nichtbestehen einer übergangsrechtlichen Bestimmung, die durch das Gericht zu füllen ist, wollte das Bundesgericht indessen nicht erblicken.
Das Bundesgericht knüpfte stattdessen am Begriff der Rechtskraft des Entscheids über den Anspruch auf Rückerstattung der Verrechnungssteuer in Art. 70d VStG an.
Das Bundesgericht setzte sich zunächst mit der Entstehungsgeschichte von Art. 70d VStG auseinander und hielt fest: „Der Gesetzgeber wollte mit der Übergangsbestimmung in erster Linie verhindern, dass für die steuerpflichtige Person negative Verfügungen, die vor dem 1. Januar 2019 in formelle Rechtskraft erwachsen sind, wieder neu beurteilt werden können. Hingegen hat die steuerpflichtige Person keinen Anlass gegen eine für sie positive Verfügung mit einem Rechtsmittel vorzugehen. Kommt die Steuerbehörde nachträglich von Amtes wegen auf eine - nach ihrer Auffassung - materiell unrichtige Verfügung zurück und widerruft diese, steht es der steuerpflichtigen Person nach den allgemeinen Grundsätzen des Verwaltungsrechts und der ausdrücklichen Regelung in Art. 58 Abs. 2 VStG zu, dagegen ein Rechtsmittel zu erheben. Folglich beginnt wiederum eine Rechtsmittelfrist zu laufen. Zugleich ist damit dargetan, dass im Umfang des verfügten Widerrufs über den (erneut) beurteilten (strittigen) Anspruch noch nicht formell rechtskräftig im Sinne von Art. 70d VStG entschieden worden ist.“09
Der Gesetzgeber ist gemäss Bundesgericht in Art. 70d VStG so zu verstehen, dass er eine steuerpflichtige Person, die erst aufgrund des Widerrufs einer für sie positiven Verfügung ein Rechtsmittel erhebt, nicht anders behandeln will als eine steuerpflichtige Person, die bereits aufgrund einer für sie negativen Verfügung ein Rechtsmittel ergreift.
Es dürfe deshalb, so das Bundesgericht, „für die Anwendbarkeit der Übergangsbestimmung von Art. 70d VStG keine Rolle spielen, ob über den Rückerstattungsanspruch bereits in einer für die steuerpflichtige Person positiven Verfügung (gewährte Rückerstattung) formell rechtskräftig entschieden worden ist. Solange sich die steuerpflichtige Person im Rahmen der ordentlichen Rechtsmittelfristen gegen die von der Steuerbehörde erneut vorgenommene negative Anspruchsbeurteilung (Rückleistung der gewährten Rückerstattung) zur Wehr setzen kann, ist darüber noch nicht rechtskräftig entschieden worden. Dieses Verständnis ist im Einklang mit dem Willen des Gesetzgebers, der beim Erlass der Übergangsbestimmung in erster Linie einen Sachverhalt mit einer noch nicht rechtskräftig beurteilten negativen Verfügung vor Augen hatte. Art. 23 Abs. 2 VStG findet vorliegend demzufolge ebenfalls übergangsrechtlich Anwendung“10.
3. Schlussbemerkungen
Eine Geschichte mit Happy End. Bleibt zu hoffen, dass auch andere steuerpflichtige Personen, die aufgrund einer Kürzungsverfügung der EStV aufgefordert worden waren, die rückerstattete Verrechnungssteuer wieder zurückzubehalten, rechtzeitig ein Rechtsmittel ergriffen haben und nun die bundesgerichtliche Auslegung von Art. 70d VStG geltend machen können.
Ihnen als Leserin und Leser sei nicht vorenthalten: Das Bundesgericht hat den vorliegenden Fall zur Neubeurteilung an die Steuerrekurskommission zurückgewiesen, insbesondere zur Klärung der Frage, ob die Liquidationsdividende fahrlässig nicht deklariert worden war.11