Nadja Braun Binder
Der Untersuchungsgrundsatz als Herausforderung vollautomatisierter Verfahren
Seit dem 1. Januar 2017 existiert in Deutschland die Möglichkeit, die Besteuerung ohne jegliche menschliche Intervention, also vollautomatisiert, durchzuführen. Dem wird das Gesetzgebungsvorhaben gegenübergestellt, mit dem in der Schweiz die Möglichkeit der vollautomatisierten Festsetzung von Zöllen, von bestimmten Wirtschaftsverkehrsteuern sowie der leistungsabhängigen Schwerverkehrsabgabe eingeführt werden soll. Der Beitrag beleuchtet Möglichkeiten und Grenzen der Vollautomation in weitgehend standardisierten Verfahren.
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Seit dem 1. Januar 2017 existiert in Deutschland die Möglichkeit, die Besteuerung ohne jegliche menschliche Intervention, also vollautomatisiert, durchzuführen. Die entsprechenden Rechtsgrundlagen sind in der Abgabenordnung enthalten und gelten für alle Steuern, die durch Bundesrecht oder Recht der Europäischen Union geregelt sind, soweit sie durch Bundesfinanzbehörden oder durch Landesfinanzbehörden verwaltet werden. Dem wird das Gesetzgebungsvorhaben gegenübergestellt, mit dem in der Schweiz die Möglichkeit der vollautomatisierten Festsetzung von Zöllen, von bestimmten Wirtschaftsverkehrsteuern sowie der leistungsabhängigen Schwerverkehrsabgabe eingeführt werden soll. Die entsprechenden Bestimmungen sind im Entwurf zur Totalrevision des Datenschutzgesetzes enthalten. Gemeinsamer Nenner der Regelung in Deutschland und des Vorhabens in der Schweiz ist die Einführung der Möglichkeit des vollautomatisierten Erlasses von Verfügungen in weitgehend standardisierten Verfahren. Sie können für weitere Verwaltungsverfahren insofern als Vorbild herangezogen werden, als sie Möglichkeiten aufzeigen, wie der Anspruch auf rechtliches Gehör umgesetzt werden kann. Gleichzeitig stellt die Sicherstellung des Untersuchungsgrundsatzes einen grossen Schwachpunkt dar, den bislang keine Regelung wirklich zufriedenstellend gelöst hat.
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1. Einleitung
Die Automatisierung von Prozessen in der Verwaltung beschäftigt die Rechtswissenschaft bereits seit den 1950er Jahren.01 Von Anfang an war klar, dass eine Automation zuvorderst in Bereichen in Frage kam, in denen es um Berechnungen – z.B. von Geldansprüchen – ging.02 Daran hat sich bis heute nichts geändert.03 Während sich die Diskussionen früher in erster Linie um die sog. Teilautomation drehten, geht es heute vermehrt um die sog. Vollautomation.04 Im Mittelpunkt jüngerer Diskussionen in Deutschland steht die Vollautomation des Steuerverfahrens. In der Schweiz geht es um die künftige Vollautomation unter anderem im Bereich der Zollveranlagung. Die entsprechenden Rechtsgrundlagen werden im Folgenden dargestellt (2. und 3.). Obwohl die beiden Rechtsordnungen und die konkreten Verfahren sich unterscheiden, tauchen sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz ähnliche grundsätzliche Fragestellungen auf. Diese betreffen insbesondere die Gewährleistung des rechtlichen Gehörs und die Sicherstellung des Untersuchungsgrundsatzes. In einem 4. Punkt werden deshalb die entsprechenden Lösungsansätze gesondert diskutiert. Den Abschluss bildet ein Fazit (5.).
2. Deutschland: Gesetz zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens
Am 1. Januar 2017 trat in Deutschland das Gesetz zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens05 und damit die Möglichkeit der vollautomatisierten Durchführung des Steuerverfahrens in Kraft. Mit diesem Gesetz wurde die Abgabenordnung (AO)06 dahingehend ergänzt, dass Finanzbehörden die in den Anwendungsbereich der Abgabenordnung fallenden Steuern automatisiert festsetzen und die daraus resultierende Verfügung elektronisch bekanntgeben können.07 Kernstück der Regelung des ausschliesslich automationsgestützten Erlasses von Steuerverwaltungsakten bilden die §§ 150 Abs. 7 und 155 Abs. 4 AO (vgl. 2.1.). Ergänzt werden diese Bestimmungen durch die Möglichkeit des Einsatzes von Risikomanagementsystemen in § 88 Abs. 5 AO (vgl. 2.2.).
2.1. Ausschliesslich automationsgestützter Erlass von Steuerverwaltungsakten
Steuerfestsetzungen sowie Anrechnungen von Steuerabzugsbeiträgen und Vorauszahlungen können seit dem 1. Januar 2017 ausschliesslich automationsgestützt vorgenommen werden, soweit kein Anlass dazu besteht, den Einzelfall durch Amtsträger zu bearbeiten (§ 155 Abs. 4 Satz 1 AO). Gleiches gilt für Verwaltungsakte, die mit den Steuerfestsetzungen sowie Anrechnungen von Steuerabzugsbeiträgen und Vorauszahlungen verbunden sind (§ 155 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 AO). Das bedeutet, dass sämtliche Verfahrensschritte innerhalb der Verwaltung zu jedem Zeitpunkt ohne personelle Bearbeitung auskommen.
Auch die Korrektur von Steuerfestsetzungen sowie Anrechnungen von Steuerabzugsbeiträgen und Vorauszahlungen bzw. von mit diesen verbundenen Verwaltungsakten können vollautomatisiert durchgeführt werden (§ 155 Abs. 4 Satz 1 bzw. Satz 2 AO). Ausserdem können auch Nebenbestimmungen zum Verwaltungsakt (§ 120 AO) ausschliesslich automationsgestützt erlassen werden, soweit dies durch eine Verwaltungsanweisung des Bundesfinanzministeriums oder der obersten Landesfinanzbehörden allgemein angeordnet ist (§ 155 Abs. 4 Satz 2 Nr. 2 AO). Soweit eine solche Verwaltungsanweisung bewirkt, dass für die Entscheidung über die Nebenbestimmung kein Ermessensspielraum (§ 5 AO) besteht, kann diese problemlos vollautomatisiert erlassen werden.
In einzelnen Fällen ist die Steuererklärung manuell zu bearbeiten. Die persönliche Bearbeitung kann durch das Risikomanagementsystem ausgelöst werden (§ 88 Abs. 5 Satz 3 Nr. 1 und 2 AO; vgl. 2.2.), durch entsprechende Auswahl eines Amtsträgers (§ 88 Abs. 5 Satz 3 Nr. 3 AO), oder durch Eintrag der steuerpflichtigen Person in ein «qualifiziertes Freitextfeld» (§ 155 Abs. 4 Satz 3 i. V. m. § 150 Abs. 7 Satz 1 AO).08 Letzteres erlaubt, von der klar strukturierten eindeutigen Dateneingabe abzuweichen.
Grundlage für das vollautomatisierte Verfahren bilden die Angaben der steuerpflichtigen Person aus der elektronischen Steuererklärung und die der Finanzbehörde bereits vorliegenden Informationen (§ 155 Abs. 4 Satz 1 AO). Zur zweiten Kategorie zählen auch die der Finanzverwaltung von Dritten übermittelten Daten (§ 93c AO). Die von Dritten übermittelten Daten gelten als Daten der steuerpflichtigen Person, soweit ihre nicht in einem dafür vorgesehenen Datenfeld der Steuererklärung abweichende Angaben macht (§ 150 Abs. 7 Satz 2 AO). Macht die steuerpflichtige Person in dem dafür vorgesehenen Feld abweichende Angaben, führt dies zu einer Aussteuerung der Steuererklärung und damit zu einer Prüfung durch Amtsträger.09
Der vollautomatisiert generierte Steuerverwaltungsakt enthält keinen Hinweis darauf, dass er ausschliesslich automationsgestützt erlassen wurde. Ein solcher ist gemäss Erläuterungen der deutschen Bundesregierung nicht notwendig, da sich aus dem vollautomatisiert erlassenen Verwaltungsakt keine anderen Rechtsfolgen ergeben als aus einem manuell bzw. teilautomationsgestützt erlassenen Steuerverwaltungsakt.10 Immerhin soll die steuerpflichtige Person darauf hingewiesen werden, dass ihre Steuererklärung vollständig automationsgestützt bearbeitet werden kann, wenn sie im qualifizierten Freitextfeld keine Angaben macht.11 Die rechtlichen Grundlagen der ausschliesslich automationsgestützten Steuerfestsetzung sehen ferner keine ausdrückliche Wahlmöglichkeit vor. Die steuerpflichtige Person kann nicht wählen, ob ihre Steuererklärung voll- oder teilautomatisiert bearbeitet werden soll. Allerdings kommt das qualifizierte Freitextfeld (§ 150 Abs. 7 Satz 1 AO) in Kombination mit der Berücksichtigungspflicht (§ 155 Abs. 4 Satz 3 AO) einer Wahlmöglichkeit nahe.
In § 155 Abs. 4 Satz 4 AO wird schliesslich die Willensbildung über den Erlass des Verwaltungsaktes und über seine Bekanntgabe im Zeitpunkt des Abschlusses der maschinellen Verarbeitung als abgeschlossen fingiert. Das ist zum einen von Bedeutung für das nachträgliche Bekanntwerden von Tatsachen i. S. d. § 173 Abs. 1 AO.12 Zum anderen stellt die Bestimmung indirekt klar, dass es sich bei ausschliesslich automationsgestützt erlassenen Verwaltungsakten um Verwaltungsakte i. S. d. § 118 Satz 1 AO handelt.
2.2. Risikomanagementsysteme
Ausschliesslich automationsgestützt durchgeführte Steuerfestsetzungsverfahren bedürfen einer Kompensation der damit einhergehenden Abstriche am Untersuchungsgrundsatz (§ 88 AO).13 Dies soll durch den Einsatz von Risikomanagementsystemen geschehen. § 88 Abs. 5 Satz 1 AO sieht deshalb vor, dass die Finanzbehörden Risikomanagementsysteme einsetzen können, mit deren Hilfe Fälle mit einem signifikanten Risiko ausgefiltert und manuell überprüft werden können. Gemäss § 88 Abs. 5 Satz 2 AO soll dabei auch der Grundsatz der Wirtschaftlichkeit der Verwaltung berücksichtigt werden. Gesetzlich vorgegeben ist, dass diese Risikomanagementsysteme eine hinreichende Anzahl zufällig ausgewählter Fälle zur umfassenden Prüfung durch Amtsträger bestimmen (§ 88 Abs. 5 Satz 3 Nr. 1 AO).
Weiter sind im Gesetz nur allgemeine Mindestanforderungen vorgesehen: Das Risikomanagementsystem muss die personelle Prüfung der ausgesteuerten Fälle und eine zusätzliche personelle Fallauswahl ermöglichen (§ 88 Abs. 5 Satz 3 Nr. 2 und 3 AO). Ausserdem ist das Risikomanagementsystem regelmässig auf seine Zielerfüllung hin zu überprüfen (§ 88 Abs. 5 Satz 3 Nr. 4 AO). Schliesslich ist vorgesehen, dass «Einzelheiten der Risikomanagementsysteme» nicht veröffentlicht werden dürfen, soweit dadurch die Gleichmässigkeit und Gesetzmässigkeit der Besteuerung beeinträchtigt werden könnte (§ 88 Abs. 5 Satz 4 AO). Für die von den Landesfinanzbehörden im Auftrag des Bundes verwalteten Steuern «legen die obersten Finanzbehörden der Länder die Einzelheiten der Risikomanagementsysteme zur Gewährleistung eines bundeseinheitlichen Vollzugs der Steuergesetze im Einvernehmen mit dem Bundesministerium der Finanzen fest»14.
3. Schweiz: Einführung automatisierter Einzelentscheide im Rahmen der Totalrevision des Datenschutzgesetzes
Im Rahmen der Totalrevision des Datenschutzgesetzes (DSG)15 plant der Gesetzgeber die Möglichkeit, dass Bundesorgane automatisierte Einzelentscheide fällen können (Art. 19 Abs. 4 E-DSG; vgl. 3.1.). Dies wird u. a. im Zollgesetz durch Ergänzung einer Bestimmung bestätigt, wonach bestimmte Verfügungen als automatisierte Einzelentscheidungen i. S. von Art. 19 Abs. 4 E-DSG ergehen können (vgl. 3.2.).
3.1. Automatisierte Einzelentscheide gemäss Art. 19 Abs. 4 E-DSG
In Art. 19 des Datenschutzgesetz-Entwurfs (E-DSG)16 wird neu für automatisierte Einzelentscheidungen, die für die betroffene Person mit einer Rechtsfolge verbunden sind oder sie erheblich benachteiligen eine Informationspflicht verankert (Art. 19 Abs. 1 E-DSG). Ausserdem erhält die betroffene Person die Möglichkeit, ihren Standpunkt darzulegen, wenn sie dies beantragt, und sie kann verlangen, dass die Entscheidung von einer natürlichen Person überprüft wird (Art. 19 Abs. 2 E-DSG). Für Bundesorgane enthält Abs. 4 eine Kennzeichnungspflicht für automatisierte Einzelentscheidungen. In der Botschaft hat der schweizerische Bundesrat präzisiert, dass es dabei um den Erlass von Verfügungen gehen soll.17 Mit «automatisiert» wird zum Ausdruck gebracht, dass «keine inhaltliche Bewertung und darauf gestützte Entscheidung durch eine natürliche Person stattgefunden hat»18.
Der schweizerische Bundesrat unterscheidet in seiner Botschaft mithin zwei Schritte: Erstens, die Beurteilung eines Sachverhalts und zweitens, die Entscheidung, die auf dieser Sachverhaltsbeurteilung beruht.19 Werden beide Schritte ohne menschliches Zutun getätigt und resultiert daraus eine Verfügung, dann handelt es sich um eine automatisierte Einzelentscheidung i. S. des Art. 19 Abs. 4 E-DSG. Gemeint sind also vollautomatisiert erlassene Verfügungen (was in der deutschen Terminologie «ausschliesslich automationsgestützt erlassenen Verwaltungsakten» entspricht).20
Die Möglichkeit der betroffenen Person, sich zu äussern bzw. eine Überprüfung durch eine natürliche Person zu verlangen (Art. 19 Abs. 2 E-DSG) gilt grundsätzlich auch für vollautomatisiert erlassene Verfügungen von Bundesorganen (Behörden oder Dienststellen des Bundes oder Personen, die mit öffentlichen Aufgaben des Bundes betraut sind, vgl. Art 4 lit. h E-DSG). Gemäss Art. 19 Abs. 4 Satz 2 E-DSG entfällt diese Möglichkeit aber in Fällen des Art. 30 Abs. 2 VwVG, also in jenen Fällen, in denen eine Ausnahme von der Anhörungspflicht gemäss Art. 30 Abs. 1 VwVG vorgesehen ist.21
Auch wenn der Regelungsgehalt von Art. 19 Abs. 4 E-DSG damit gegen Null tendiert, lässt sich als Zwischenfazit an dieser Stelle immerhin festhalten, dass der Bundesgesetzgeber mit der Verabschiedung des totalrevidierten DSG die Möglichkeit vollautomatisiert erlassener Verfügungen anerkennen will. Dies bedeutet allerdings nicht, dass Bundesorgane ohne weitere Rechtsanpassung fortan in jedem Bereich der Verwaltungstätigkeit Verfügungen vollautomatisiert erlassen dürfen. Aus dem Gesetzmässigkeitsprinzip (Art. 5 Abs. 1 BV i.V.m. Art. 164 Abs. 1 lit. b und g BV) folgt vielmehr, dass für den vollautomatisierten Erlass einer Verfügung eine formell-gesetzliche Grundlage zu schaffen ist, die auch den Anforderungen an die Normdichte genügt. Art. 19 Abs. 4 E-DSG erfüllt diese Anforderungen nicht.22
3.2. Automatisierte Einzelentscheide im Bereich der Zollveranlagung
Im Zuge der Totalrevision des DSG werden die Bestimmungen zur Veranlagung nach dem Zollgesetz (ZG)23 um einen Verweis auf Art. 19 E-DSG ergänzt.24 Entsprechende Ergänzungen sind auch für die Festsetzung der Steuerbeträge nach dem Tabaksteuergesetz (TStG)25, nach dem Mineralölsteuergesetz (MinöStG)26 und nach dem Biersteuergesetz (BStG)27, sowie zur Festsetzung der Schwerverkehrsabgabe nach dem Schwerverkehrsabgabegesetz (SVAG)28 vorgesehen. Da bei diesen Verfahren aber jeweils das ZG zur Anwendung kommt,29 wird im Folgenden lediglich das Verfahren der Zollveranlagung näher skizziert.
Gemäss Art. 38 Abs. 2 E-ZG kann die Zollstelle die Veranlagungsverfügung künftig also als automatisierte Einzelentscheidung i. S. von Art. 19 Abs. 4 E-DSG erlassen. Bereits heute bestehen im Zollveranlagungsverfahren weitgehende Digitalisierungsmöglichkeiten. Die vollautomatisiert erlassene Zollveranlagungsverfügung reiht sich hier als beinahe schon logische Konsequenz praktisch nahtlos ein.
Das Zollveranlagungsverfahren (Art. 18 ZG) kann in vier Schritte unterteilt werden:30
- Das summarische Prüfungsverfahren (Art. 32 ZG)
- Die Annahme der Zollanmeldung (Art. 33 ff. ZG)
- Die Überprüfung und Beschau (Art. 35 und 36 ZG)
- Die Veranlagung einschliesslich Erlass der Veranlagungsverfügung (Art. 38 ff. ZG)
Bei der elektronischen Zollanmeldung wird der erste Schritt, die summarische Prüfung, direkt vom System durchgeführt (Art. 84 lit. a ZV31; Art. 16 ZV-EZV32). Diesfalls prüft das System allerdings nicht, ob die zugeführte Ware mit der Zollanmeldung übereinstimmt, und ob die erforderlichen Begleitdokumente vorhanden sind.33 Nach Abschluss der elektronischen Plausibilitätsprüfung fügt das Datenverarbeitungssystem der elektronischen Zollanmeldung automatisch Annahmedatum und Annahmezeit hinzu (Art. 16 ZV-EZV). Damit gilt die Zollanmeldung als angenommen (Art. 16 ZV-EZV). Sie ist für die anmeldepflichtige Person verbindlich (Art. 33 Abs. 1 ZG). Bis zu diesem Punkt läuft das Verfahren bei elektronischer Anmeldung also bereits ohne menschliche Intervention seitens der Behörden ab. Einzig im Rahmen der Auslösung des Verfahrens (über die elektronische Anmeldung) wird ein Mensch tätig und zwar die anmeldepflichtige Person.
Die Zollstelle «kann» die angemeldete Ware sodann umfassend oder stichprobeweise beschauen (Art 36 Abs. 1 ZG). Gemäss Art. 35 ZG, der mit der Schaffung der elektronischen Zollanmeldung notwendig wurde34, «kann» die Zollstelle die angenommene Zollanmeldung und die Begleitdokumente zudem jederzeit während des Veranlagungsverfahrens überprüfen (Abs. 1) und von der anmeldepflichtigen Person weitere Unterlagen verlangen (Abs. 2). Zu diesem Zweck führt das EDV-System eine Selektion aufgrund einer Risikoanalyse durch (Art. 17 Abs. 1 ZV-EZV).35 Das System übermittelt das Ergebnis der Selektion direkt an die anmeldepflichtige Person.36 Werden die Waren freigegeben, so muss die anmeldepflichtige Person der Zollstelle einen Ausdruck der Zollanmeldung und die erforderlichen Begleitdokumente zwar vorlegen (Art. 17 Abs. 3 ZV-EZV). Angesichts der «kann»-Formulierung des Art. 35 ZG wird die Zollstelle die Angaben aber nicht in jedem Fall prüfen. Nichts anderes gilt für die «kann»-Formulierung in Art. 36 ZG. Unter Umständen findet auch in diesem Verfahrensschritt also bereits heute wohl keine menschliche Intervention statt.
Den letzten Verfahrensschritt bildet der Erlass der Veranlagungsverfügung (Art. 38 ff. ZG). Die Veranlagungsverfügung muss nicht den formellen Voraussetzungen des Art. 5 VwVG entsprechen.37 Sie kann auf Papier oder elektronisch erfolgen (Art. 92 ZV). Die elektronische Veranlagungsverfügung wird mittels Aufschaltung der Verfügung auf dem zur Zollanmeldung genutzten EDV-System eröffnet (Art 20a ZV-EZV). Die Abgabe wird von der Zollstelle auf Basis der Zollansätze und Bemessungsgrundlagen zum Zeitpunkt der Annahme der Zollanmeldung (Art. 33 ZG) festgesetzt.38
Wird der Zoll künftig tatsächlich in Form einer vollautomatisierten Verfügung veranlagt, dann hat die Behörde die Verfügung gemäss Art. 19 Abs. 4 E-DSG entsprechend zu kennzeichnen, sodass die betroffene Person erkennen kann, dass sie automatisiert erging.39 Der Sinn und Zweck der Kennzeichnungspflicht nach Art. 19 Abs. 4 E-DSG liegt in der Befähigung der betroffenen Person, ihren Anspruch auf rechtliches Gehör wahrzunehmen.40 Im Kontext des Zollveranlagungsverfahrens bringt die Kennzeichnung allerdings keinen erkennbaren Mehrwert.41 Auf der einen Seite wirkt die anmeldepflichtige Person aufgrund des Selbstdeklarationsprinzips ohnehin in zentraler Weise an der Sachverhaltsfeststellung mit. Auf der anderen Seite wurden bereits mit der Einführung der elektronischen Zollanmeldung als Ausgleich für das erhöhte Mass an Selbstverantwortung, das der anmeldepflichtigen Person übertragen wurde, die Möglichkeiten zur Berichtigung bereits angenommener Zollanmeldungen (Art. 34 ZG) verbessert.42
Im Kontext der Vollautomation könnte dagegen eine andere Vorgabe, die ebenfalls im Zusammenhang mit der Einführung der elektronischen Zollanmeldung gesetzlich verankert wurde, an zusätzlicher Bedeutung gewinnen. Gemäss Art. 42 Abs. 3 ZG darf die Vereinfachung des Veranlagungsverfahrens bzw. die Verlagerung der Verantwortung auf die anmeldepflichtige Person nicht dazu führen, dass die Abgabesicherheit gefährdet wird.43 Das bedeutet, dass der Staat die Verantwortung für die korrekte Durchführung der Zollveranlagung nicht aus der Hand geben darf. Dies gilt auch im Kontext der Vollautomation und bedingt, dass geeignete Kontrollen durchgeführt werden. Wie dies im Rahmen der Vollautomation umgesetzt werden soll, ist allerdings unklar.
4. Grundlegende Fragen
Beide skizzierten Verfahrensarten zeichnen sich dadurch aus, dass es dabei in der Regel um gebundene Entscheidungen geht. Ausserdem wird aufgrund des Selbstdeklarationsprinzips in beiden Verfahren die Sachverhaltsermittlung weitgehend der steuer- bzw. anmeldepflichtigen Person übertragen. Die Sachverhalte lassen sich ausserdem grösstenteils in standardisierter Form (Angabe von Beträgen, Daten oder Waren- bzw. Zolltarifnummern) erfassen. Das sind alles Voraussetzungen, die eine Vollautomation stark begünstigen.44 Sowohl das deutsche Besteuerungsverfahren als auch das schweizerische Zollveranlagungsverfahren zeigen zudem Möglichkeiten auf, wie der Anspruch auf rechtliches Gehör – zumindest für bestimmte Verfahren – umgesetzt werden kann (vgl. 4.1.). Gleichzeitig stellt die Sicherstellung des Untersuchungsgrundsatzes einen grossen Schwachpunkt dar, den bislang keine Regelung zufriedenstellend gelöst hat, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen (vgl. 4.2.).
4.1. Rechtliches Gehör i. e. S.
Aus Art. 29 Abs. 2 BV, dem Anspruch auf rechtliches Gehör, fliesst u. a. das Recht der Betroffenen, sich vor Ergehen eines Entscheids zur Sache zu äussern (rechtliches Gehör i. e. S.).45 Beim vollautomatisierten Erlass einer Verfügung werden die Möglichkeiten der vorgängigen Äusserung stark eingeschränkt. Bei mitwirkungsbedürftigen Verfügungen läuft es auf eine weitgehende Verlagerung der Sachverhaltsermittlung auf die antragstellende Person hinaus. Damit die Angaben der betroffenen Person vollautomatisiert verarbeitet werden können, müssen diese in standardisierter Form erfasst werden. Dies wird spätestens dann problematisch, wenn die antragstellende Person Erläuterungen oder Informationen ergänzen möchte, die in einem standardisierten Eingabeformular nicht eingegeben werden können.
Der Blick auf die Regelung in der deutschen Abgabenordnung zeigt, dass dieses Problem vom Gesetzgeber berücksichtigt werden kann, und zwar in Form des erwähnten «qualifizierten Freitextfeldes» (vgl. 2.1.).
In der Schweiz ist für die Verfahren nach dem ZG ein solches Freitextfeld nicht vorgesehen. Allerdings wurde mit der Erweiterung der Berichtigungsmöglichkeiten im Zuge der Digitalisierung der Verfahren ein Weg eingeschlagen, der sich auch im Rahmen der Vollautomation als Möglichkeit zur Umsetzung des rechtlichen Gehörs i. e. S. bewähren könnte.
Während diese Lösung für die Zollveranlagung als Massenverfahren mit hohem Standardisierungsgrad geeignet zu sein scheint, ist es für Verfügungen, die auf weniger standardisiert erfassbaren Daten beruhen, allerdings eher ungeeignet. Einerseits schlicht deshalb, weil die verfügende Behörde vor Erlass der Verfügung alle notwendigen Angaben vollständig erhalten haben sollte. Dies funktioniert allerdings nur dann, wenn die Angaben auch tatsächlich im Rahmen standardisierter Eingaben gemacht werden können. Andererseits aber auch deshalb, weil die betroffene Person zwar vielleicht bei Zollveranlagungsverfahren Fehler aufgrund einer Abweichung zwischen erwartetem und erhobenem Zollbetrag leicht erkennen kann, dies aber in anderen Verfahren u. U. ungleich schwerer möglich wäre. Diesfalls wäre ein «qualifiziertes Freitextfeld» nach dem Vorbild der deutschen Abgabenordnung wohl besser geeignet.
4.2. Untersuchungsgrundsatz
Der vollautomatisierte Erlass einer Verfügung führt – jedenfalls bei mitwirkungsbedürftigen Verfügungen – zu einer Verlagerung der Sachverhaltsermittlung auf die betroffene Person (vgl. 4.1.). Eine vollständige oder zumindest weitgehende Verlagerung der Sachverhaltsermittlung auf die betroffene Person ist allerdings mit dem Untersuchungsgrundsatz nicht ohne Weiteres vereinbar.46 Der Untersuchungsgrundsatz ist nämlich Ausdruck dafür, dass die Behörde die Letztverantwortung für die Entscheidung trägt.47
Im deutschen Steuerverfahrensrecht ist zur Sicherstellung des Untersuchungsgrundsatzes im Rahmen von vollautomatisierten Besteuerungsverfahren in § 88 Abs. 5 AO der Einsatz von Risikomanagementsystemen vorgesehen (vgl. 2.2.). Die in der AO vorgesehenen Risikomanagementsysteme sollen Fälle mit einem signifikanten Risiko ausfiltern, damit diese manuell überprüft werden können. Über die genaue Funktionsweise dieser Risikomanagementsysteme ist allerdings wenig bekannt, zumal bereits das Gesetz vorsieht, dass «Einzelheiten der Risikomanagementsysteme» nicht veröffentlicht werden dürfen. Es spricht aber einiges dafür, dass diese Risikomanagementsysteme – zumindest teilweise – auf maschinellen Lernverfahren basieren.48
Der Einsatz von Risikomanagementsystemen ist in verschiedener Hinsicht problematisch. Er führt zu einer Verlagerung: An die Stelle des Grundsatzes der Einzelfallprüfung tritt eine automationsgestützte Risikobeurteilung.49 Für vollautomatisierte Steuerfestsetzungen hat dies zur Folge, dass die Finanzbehörde ihre Beratungs- und Hinweispflicht nicht mehr wahrnehmen kann. Der Untersuchungsgrundsatz umfasst aber auch eine behördliche Fürsorge- und Unterstützungsfunktion im Hinblick auf die Rechtsposition der steuerpflichtigen Person.50 Die steuerpflichtige Person ist demnach gegenüber der Bearbeitung im manuellen Verfahren benachteiligt. Das wird auch nicht (vollständig) durch das Risikomanagementsystem kompensiert, da dieses in erster Linie darauf abzielt, Steuerumgehungen zu vermeiden.
Anlass zur Kritik bietet auch § 88 Abs. 5 Satz 2 AO, wonach der Grundsatz der Wirtschaftlichkeit der Verwaltung berücksichtigt werden soll. Hintergrund der gesetzlichen Verankerung bzw. der daran geübten Kritik ist eine schon länger andauernde Auseinandersetzung um die Frage, ob der Untersuchungsgrundsatz die Berücksichtigung von Wirtschaftlichkeitsgesichtspunkten dahin gehend zulasse, dass das Verhältnis von Ermittlungsaufwand zum steuerlichen Mehrergebnis berücksichtigt wird.51 Auch wenn die Begründung der deutschen Bundesregierung diesbezüglich zurückhaltend ist,52 lässt der Gesetzeswortlaut es zu, die nun gesetzlich verankerten Wirtschaftlichkeitsaspekte so zu verstehen, dass Fälle mit geringem Steuerpotenzial nicht personell zu bearbeiten sind.53 Dies ist aber entschieden abzulehnen.
Art und Umfang der Ermittlungen dürfen nicht am finanziellen Ausfallrisiko ausgerichtet werden, sondern haben sich am Verifikationsbedürfnis zu orientieren.54 Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass die Finanzverwaltung nicht im Rahmen des Gesetzesvollzugs das Wirtschaftlichkeitsprinzip zu beachten hat.55 In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass die finanzbehördliche Aufklärungspflicht durch Zweckmässigkeits- und Wirtschaftlichkeitserwägungen begrenzt sein kann.56 Ein wirtschaftliches Maximalprinzip – i. S. einer wirtschaftlich optimalen Aufwand-Mehrergebnis-Relation – ist damit aber nicht gemeint.57 Vielmehr verlangt das Gebot der gleichmässigen Besteuerung eine Minimierung des Risikos einer rechtswidrigen Steuerfestsetzung.58
Ferner ist die Vorgabe, dass die Risikomanagementsysteme eine manuelle Auswahl von Fällen zur Prüfung durch Amtsträger gewährleisten müssen (§ 88 Abs. 5 Satz 3 Nr. 3 AO), kritisch zu hinterfragen. Der Gesetzgeber lässt offen, aufgrund welcher Kriterien die Fälle ausgewählt werden können. Unklar bleibt auch, welches Ziel mit einer manuellen Fallauswahl verfolgt wird.59 In der Literatur wurde im Zusammenhang mit Risikomanagementsystemen zwar vereinzelt ausgeführt, eine personelle Fallauswahl sei wichtig, um das Erfahrungswissen der Sachbearbeitenden einfliessen zu lassen.60 Dieses Argument wird mit einer vollautomatisierten Steuerfestsetzung allerdings obsolet, da die bearbeitende Person gar keine Gelegenheit erhält, ihr Erfahrungswissen anhand einer konkreten Steuererklärung einzubringen. Es stellt sich also die Frage, welche Vorteile eine manuelle Fallauswahl für die Wahrung des Untersuchungsgrundsatzes bringt.
Auch die gesetzlich nur mangelhaft geregelte Kontrolle der Risikomanagementsysteme ist problembehaftet.61 § 88 Abs. 5 Satz 3 Nr. 4 AO schreibt lediglich eine «regelmässige Überprüfung der Risikomanagementsysteme auf ihre Zielerfüllung» vor. Wer diese Prüfung vornehmen muss, ist gesetzlich nicht näher definiert.
Schliesslich dürfen «Einzelheiten der Risikomanagementsysteme» nicht veröffentlicht werden (§ 88 Abs. 5 Satz 4 AO). Auf der einen Seite ist diese Vorgabe verständlich. Die Gleichmässigkeit und Gesetzmässigkeit der Besteuerung wäre gefährdet, wenn Steuerbürgerinnen und Steuerbürger die Kriterien oder Funktionsweise der Risikomanagementsysteme kennen würden und somit diese Filter umgehen könnten.62 Auf der anderen Seite lässt die Regelung offen, worum es sich bei den genannten «Einzelheiten» handelt. Geht es um die in den Risikomanagementsystemen verwendeten Algorithmen? Oder sind damit Prüfparameter gemeint, wie bspw. das Überschreiten von bestimmten Wertgrenzen, Veränderungen gegenüber dem Vorjahr oder logische Widersprüche in der Steuererklärung?63 Oder sind davon (auch) personenbezogene Daten erfasst, auf deren Basis das Risiko einer steuerpflichtigen Person bzw. einer Steuererklärung beurteilt wird? Ist letzteres gemeint, wäre festzuhalten, dass die betroffene Person demnach keinerlei Anhaltspunkte dafür hat, welche persönlichen Informationen das Risikomanagementsystem nutzt und ob diese korrekt sind. Dies verletzt das Recht der betroffenen Person auf informationelle Selbstbestimmung und schränkt ihre Rechtsschutzmöglichkeiten erheblich ein. Zudem kann nicht kontrolliert werden, ob die genutzten Informationen überhaupt zielführend sind. So könnte das System bspw. auch Kriterien berücksichtigen wie etwa die Religionszugehörigkeit oder das Geschlecht. Oder soll auf die Tax Compliance der Steuerberaterin bzw. des Steuerberaters abgestellt werden?64 Diesfalls wäre zu prüfen, ob dadurch nicht in das Grundrecht der Berufsausübungsfreiheit eingegriffen wird.65 Insgesamt steht der staatliche Einsatz von Algorithmen vor der grossen Herausforderung, den Mangel an Transparenz und die damit einhergehenden Konflikte mit datenschutzrechtlichen Prinzipien und dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung zu rechtfertigen bzw. nach Möglichkeit zu kompensieren.66
Und wie sieht es mit der Umsetzung des Untersuchungsgrundsatzes im schweizerischen Zollveranlagungsverfahren aus? Zwar hält Art. 42 Abs. 3 ZG fest, dass die Abgabesicherheit durch die Vereinfachung des Veranlagungsverfahrens nicht gefährdet werden darf. Wie genau die Kontrollen bei einer vollautomatisierten Zollveranlagung durchgeführt werden sollen, lässt der Gesetzgeber offen. Es ist somit unklar, ob bzw. wie die Verantwortung des Staates für die gesetzmässige Durchführung der Zollveranlagung sichergestellt wird. Auch wenn an der deutschen Lösung mit Risikomanagementsystemen einiges kritisiert werden kann, so ist doch die grundsätzliche Herangehensweise als gangbarer Weg einzustufen. Denn gerade im Massenvollzug kann und muss eine 100-prozentige administrative Vollzugssicherheit unter Umständen nicht hergestellt werden. Eine Pflicht zur strukturellen Vollzugssicherung erscheint genügend.67 Allerdings entbindet dies nicht von einer verfassungskonformen Ausgestaltung der eingesetzten Risikomanagement-Systeme.
5. Fazit mit Blick auf das Zollveranlagungsverfahren
Der Wille des schweizerischen Gesetzgebers nach mehr Automation im Zollveranlagungsverfahren erstaunt nicht. Bereits mit der Totalrevision des Zollgesetzes wurden wichtige Meilensteine hin zu einer Digitalisierung und damit auch Automatisierung des Zollveranlagungsverfahrens verankert. Der vollautomatisierte Erlass der Zollveranlagungsverfügung erscheint quasi als logische Konsequenz der eingeschlagenen Entwicklung. Die Sicherstellung des rechtlichen Gehörs im Rahmen einer vollautomatisierten Zollveranlagung scheint – insbesondere angesichts des Selbstdeklarationsgrundsatzes und der erweiterten Korrekturmöglichkeiten (Art. 34 ZG) – wenig problematisch. Eventueller Optimierungsbedarf könnte durch das Angebot eines qualifizierten Freitextfeldes nach dem Beispiel des deutschen Steuerverfahrensrechts abgedeckt werden. Hingegen ist die Sicherstellung des Untersuchungsgrundsatzes im vollautomatisierten Zollveranlagungsverfahren noch unklar. Hier besteht Handlungsbedarf. Der Gesetzgeber hat zu klären, wie die Kontrollen bei einer vollautomatisierten Zollveranlagung durchzuführen sind.
01 Vgl. nur etwa Karl Zeidler, Über die Technisierung der Verwaltung - Eine Einführung in die juristische Beurteilung der modernen Verwaltung, Karlsruhe 1959; Hans Peter Bull, Verwaltung durch Maschinen - Rechtsprobleme der Technisierung der Verwaltung, Köln/Berlin 1964; Niklas Luhmann, Recht und Automation in der öffentlichen Verwaltung, Berlin 1966 (zit. Luhmann 1966); Benno Degrandi, Die automatisierte Verwaltungsverfügung, Zürich 1977 (zit. Degrandi 1977).
02 Panagiotis Lazaratos, Rechtliche Auswirkungen der Verwaltungsautomation auf das Verwaltungsverfahren, Berlin 1990, S. 235; Luhmann 1966, S. 68; Spiros Simitis, Automation in der Rechtsordnung - Möglichkeiten und Grenzen, Karlsruhe 1967, S. 13.
03 Vgl. nur Annette Guckelberger, Öffentliche Verwaltung im Zeitalter der Digitalisierung, Baden-Baden 2019, Rz. 432 (zit. Guckelberger 2019).
04 Zur Terminologie vgl. schon Degrandi 1977, S. 51 ff.
05 Vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens vom 3. Februar 2016, BT-Drs. 18/7457; Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses vom 11. Mai 2016, BT-Drs. 18/8434; zweite und dritte Beratung des Bundestages, BT-Plenarprotokoll 18/170 vom 12. Mai 2016, S. 16773C-16783D; Zustimmung des Bundesrates vom 17. Juni 2016, BR-Drs. 255/16.
06 Abgabenordnung in der Fassung der Bekanntmachung vom 1. Oktober 2002 (BGBl. I S. 3866; 2003 I S. 61), zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes vom 21. Dezember 2019 (BGBl. I S. 2875).
07 Vgl. dazu und zum Folgenden Nadja Braun Binder, Ausschliesslich automationsgestützt erlassene Steuerbescheide und Bekanntgabe durch Bereitstellung zum Datenabruf, DStZ 2016, S. 526 ff.
12 Roman Seer, Modernisierung des Besteuerungsverfahrens, StuW 2015, S. 315 ff., S. 323.
13 Vgl. ausführlich zu den aus dem Untersuchungsgrundsatz in Steuerverfahren fliessenden Anforderungen und deren Umsetzung im Rahmen von Risikomanagementsystemen Klaus-Dieter Drüen, Amtsermittlungsgrundsatz und Risikomanagement, in: DStJG 2019, S. 193 ff. (zit. Drüen 2019).
15 Vgl. Botschaft des Bundesrates vom 15. September 2017, BBl 2017 6941 ff., sowie den Entwurf des totalrevidierten Datenschutzgesetzes vom 15. September 2017, BBl 2017 7193 ff. Der Entwurf wurde am 24. und 25. September 2019 im Nationalrat (NR) behandelt, vgl. Amtl. Bull. 2019 NR 1773 ff. bzw. 1804 ff. und am 18. Dezember 2019 im Ständerat (StR), vgl. Amtl. Bull. 2019 StR 1238 ff. Da insgesamt noch Abweichungen von der nationalrätlichen Vorlage bestanden, ging die Vorlage anfangs 2020 zurück an den Nationalrat; vgl. Amtl. Bull. 2020 NR 139 ff. Auch hiernach waren nicht alle Differenzen beseitigt, so dass der Ständerat noch einmal über die Vorlage befinden wird.
16 Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf den Stand des Entwurfs nach den Beratungen im Nationalrat am 5. März 2020.
20 Nadja Braun Binder, Automatisierte Entscheidungen: Perspektive Datenschutzrecht und öffentliche Verwaltung SZW 2020, S. 27–34 (zit. Braun Binder SZW 2020). Vgl. auch David Rechsteiner, Der Algorithmus verfügt, in: Jusletter 26. November 2018.
21 Damit geht die Regelung in Art. 19 E-DSG mit Blick auf vollautomatisiert erlassene Verfügungen nicht über das hinaus, was das VwVG bereits vorsieht, vgl. Braun Binder SZW 2020, S. 32 f. So auch bereits Simon Roth, Die automatisierte Einzelentscheidung, digma 2017, S. 104–109, S. 105, und Beat Rudin, Anpassungsbedarf in den Kantonen, digma 2017, S. 58–70, S. 63.
22 Vgl. ausführlich Nadja Braun Binder, Als Verfügungen gelten Anordnungen der Maschinen im Einzelfall… – Dystopie oder künftiger Verwaltungsalltag?, ZSR 2020 i. E. (zit. Braun Binder ZSR 2020).
23 Zollgesetz vom 18. März 2005, SR 631.00.
24 Art. 38 Abs. 2 E-ZG: «Sie kann die Veranlagungsverfügung als automatisierte Einzelentscheidung nach Art. 19 des Datenschutzgesetzes (…) erlassen.» (BBl 2017 7260).
25 Bundesgesetz über die Tabakbesteuerung vom 21. März 1969, SR 641.31.
26 Mineralölsteuergesetz vom 21. Juni 1996, SR 641.61.
27 Bundesgesetz über die Biersteuer vom 6. Oktober 2006, SR 641.411.
28 Bundesgesetz über eine leistungsabhängige Schwerverkehrsabgabe vom 19. Dezember 1997, SR 641.81.
29 Für die Erhebung der Steuern nach dem TStG, dem BStG und dem MinöStG gelten grundsätzlich die für das Zollveranlagungsverfahren geltenden Bestimmungen. So ausdrücklich Art. 3 TStG und Art. 6 BStG. Für die Mineralölsteuern ergibt sich dies aus Art. 90 ZG i.V.m. Art. 5 Abs. 1 MinöStG. Vgl. auch Regina Kiener/Bernhard Rütsche/Mathias Kuhn, Öffentliches Verfahrensrecht, 2. Aufl., Zürich/St. Gallen 2015, Rz. 906. Für das Verfahren der Festsetzung der leistungsabhängigen Schwerverkehrsabgabe ist gestützt auf Art. 90 ZG ebenfalls das Zollgesetz anwendbar, jedenfalls dort, wo die Eidgenössische Zollverwaltung für den Vollzug zuständig ist.
30 Patrick Raedersdorf, in: Martin Kocher/Diego Clavadetscher (Hrsg.), Stämpflis Handkommentar Zollgesetz, Bern 2009, Art. 32 Rz. 2 (zit. AutorIn, in: Kocher/Clavadetscher, Handkommentar Zollgesetz).
31 Zollverordnung (ZV) vom 1. November 2006, SR 631.01.
32 Zollverordnung der Eidgenössischen Zollverwaltung (EZV) vom 4. April 2007, SR 631.013.
33 Raedersdorf, in: Kocher/Clavadetscher, Handkommentar Zollgesetz, Art. 32 Rz. 7.
34 BBl 2004 618.
35 Vgl. zu den verschiedenen möglichen Selektionsergebnissen Raedersdorf, in: Kocher/Clavadetscher, Handkommentar Zollgesetz, Art. 35 Rz. 3.
36 Remo Arpagaus, in: Heinrich Koller/Georg Müller/Thierry Tanquerel/Ulrich Zimmerli (Hrsg.), Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht, Band XII, Zollrecht, 2. Aufl., Basel 2007, Rz. 716 (zit. AutorIn, in: Koller/Müller/Tanquerel/Zimmerli, Bundesverwaltungsrecht Bd. XII).
37 Dies folgt aus der Tatsache, dass das VwVG gemäss Art. 3 lit. e VwVG auf das Verfahren der Zollveranlagung keine Anwendung findet.
38 Raedersdorf, in: Kocher/Clavadetscher, Handkommentar Zollgesetz, Art. 38 Rz. 4.
39 BBl 2017 7138.
40 Auch wenn die Art. 30 ff. VwVG auf das Zollveranlagungsverfahren nicht anwendbar sind, so gilt doch der verfassungsrechtliche Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV).
41 Vgl. auch Braun Binder ZSR 2020 (i. E.).
42 Arpagaus, in: Koller/Müller/Tanquerel/Zimmerli, Bundesverwaltungsrecht Bd. XII, Rz. 713 und 717. Vgl. auch Raedersdorf, in: Kocher/Clavadetscher, Handkommentar Zollgesetz, Art. 33 Rz. 6, sowie BGE 124 IV 23 E. 2c.
43 Vgl. auch Arpagaus, in: Koller/Müller/Tanquerel/Zimmerli, Bundesverwaltungsrecht Bd. XII, Rz. 713.
44 Vgl. nur Guckelberger 2019, Rz. 432 ff.
45 Giovanni Biaggini, BV Kommentar, 2. Aufl., Zürich 2017, Art. 29 Rz. 20.
46 Zu berücksichtigen ist dabei allerdings, dass der Untersuchungsgrundsatz je nach Fachgebiet, unterschiedlich ausgeprägt ist. Gerade im Steuerrecht wird er durch weitgehende Mitwirkungspflichten des Steuerpflichtigen relativiert, vgl. nur Drüen 2019, S. 195 f.
47 Vgl. allgemein Daniela Thurnherr, Verfahrensgrundrechte und Verwaltungshandeln, Zürich/St. Gallen 2013, S. 327.
48 Dazu ausführlich Nadja Braun Binder, Algorithmisch gesteuertes Risikomanagement in digitalisierten Besteuerungsverfahren, in: Sebastian Unger/Antje von Ungern-Sternberg (Hrsg.), Demokratie und künstliche Intelligenz, Tübingen 2019, S. 161–181; sowie Nadja Braun Binder, Artificial Intelligence and Taxation: Risk Management in Fully Automated Taxation Procedures, in: Thomas Wischmeyer/Timo Rademacher (Hrsg.), Regulating Artificial Intelligence, Cham, S. 295–306.
49 Vgl. auch Julia Ruß/Roland Ismer/Juliane Margolf, Digitalisierung des Steuerrechts: Eine Herausforderung für die Ausgestaltung von materiellen Steuergesetzen, DStR 2019, S. 409 ff., S. 413.
50 Zum Inhalt des Untersuchungsgrundsatzes vgl. Bettina Spilker, Behördliche Amtsermittlung, Tübingen 2015, S 67 ff.
51 Als unzulässig erachten dies etwa Lukas Münch/Thomas Sendke, Geplante Modernisierung der verfahrensrechtlichen Korrekturvorschriften, DStZ 2015, S. 487 ff., S. 489 (zit. Münch/Sendke 2015). Einen Überblick über den Stand der Diskussion im Jahr 2013 bietet Klaus-Dieter Drüen, Risikomanagement im Besteuerungsverfahren. Kostendruck und Vollzugspflicht der Steuerverwaltung, in: Jürgen Brandt (Hrsg.), 8. und 9. Finanzgerichtstag, Stuttgart 2013, S. 253, S. 261 ff. (zit. Drüen 2013).
52 In den Erläuterungen zu § 88 Abs. 5 AO steht: «Risikomanagement hilft dabei, mit den vorhandenen Ressourcen das bestmögliche Ergebnis im Spannungsverhältnis zwischen gesetz- und gleichmässiger Besteuerung einerseits und zeitnahem und wirtschaftlichem Verwaltungshandeln andererseits zu erreichen.», BT-Drs. 18/7457, S. 70.
53 Vgl. die Äusserung von Dr. Susanne Stiewe vom Hessischen Ministerium der Finanzen anlässlich der öffentlichen Anhörung des Finanzausschusses: «Ganz kurz zu dem Begriff der Wirtschaftlichkeit (…). Was wir damit ja eigentlich wollen, ist, dass die Fälle, in denen wir kein hohes Steuerpotential erwarten (…), schneller bearbeitet werden können und dass die Maschinen uns dort zur Hilfe kommen, so dass wir unser Personal für die Fälle einsetzen können, in denen wir ein hohes Steuerpotential erwarten. Das ist letztlich das, was dahinter steht», Protokoll Nr. 18/75 des Finanzausschusses vom 13.4.2016, S. 39.
54 Drüen 2019, S. 207 ff.; Drüen 2013, S. 264 f. m.w.N.; Eckehard Schmidt/Michael Schmitt, Risikomanagement – Zaubermittel oder Bankrotterklärung der Verwaltung?, in: Rudolf Mellinghoff/Wolfgang Schön/Hermann-Ulrich Viskorf (Hrsg.), Steuerrecht im Rechtsstaat, FS Spindler, Köln 2011, S. 529, S. 530 (zit. Schmidt/Schmitt 2011).
55 Roman Seer, Der Vollzug von Steuergesetzen unter den Bedingungen einer Massenverwaltung, DStJG 2008, S. 7 ff., S. 17 (zit. Seer 2008).
56 BVerfG, Beschl. v. 20.6.1973 – 1 BvL 9/71; 1 BvL 10/71, BVerfGE 35, 283 = BStBl. II 1973, 720; BFH, Urt. v. 7.12.1955 – V z 183/54 S, BFHE 62, 201 = BStBl III 1956, 75.
57 Seer 2008, S. 19. Erhellend mit Blick auf das Urteil des BVerfG vom 20.6.1973 (1 BvL 9/71; 1 BvL 10/71, BVerfGE 35, 283 = BStBl. II 1973, 720) Münch/Sendke 2015, S. 489.
58 Klaus-Dieter Drüen, Die Zukunft des Steuerverfahrens, in: Wolfgang Schön/Karin E. M. Beck (Hrsg.), Zukunftsfragen des deutschen Steuerrechts, Wiesbaden 2009, S. 1 ff., S. 13; Münch/Sendke 2015, S. 489; Sibylle Nagel/Thomas Waza, Risikomanagement beim Steuervollzug - ein Weg aus der Krise!, DStZ 2008, S. 321 ff., S. 323 (zit. Nagel/Waza 2008); Seer 2008, S. 19.
59 Die Erläuterungen enthalten dazu keine Angaben. Vgl. BT-Drs. 18/7457, S. 69 f.
60 Nagel/Waza 2008, S. 324; Schmidt/Schmitt 2011, S. 539.
61 Im Parlament wurde an diesem Punkt bis zuletzt Kritik geübt. Vgl. Lisa Paus (Bündnis 90/Die Grünen), in: BT-Plenarprotokoll 18/159, S. 15718 B; Axel Troost (Die Linke), in: BT-Plenarprotokoll 18/170, S. 16778 D; Thomas Gambke (Bündnis 90/Die Grünen), in: BT-Plenarprotokoll 18/170, S. 16781 B.
62 Sebastian Deckers/Lars Fiethen, Finanzverwaltung 2.0 - Schlaglichter, Entwicklungslinien und Trends, FR 2015, S. 913 ff., S. 915 (zit. Deckers/Fiethen 2015).
63 So verschiedene Hinweise bei Bundesrechnungshof, Bericht nach § 99 BHO über den Vollzug der Steuergesetze, insbesondere im Arbeitnehmerbereich vom 17.1.2012, S. 22 ff. (online gefunden am 8. Juni 2020 unter: https://www.bundesrechnungshof.de/de/veroeffentlichungen/produkte/sonderberichte/langfassungen/2012-sonderbericht-vollzug-der-steuergesetze-insbesondere-im-arbeitnehmerbereich); Deckers/Fiethen 2015, S. 914; Sabine Haunhorst, Risikomanagement in der Finanzverwaltung – ein Fall für die Finanzgerichte?, DStR 2010, 2105, S. 2108 f.). Vgl. auch Drüen 2019, S. 211.
64 Vgl. die Kritik bei Sina Baldauf, Gesetz zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens – Kritische Betrachtung des Regierungsentwurfs, DStR 2016, S. 833 ff., S. 836 f. (zit. Baldauf 2016).
65 Baldauf 2016, S. 836 f.
66 Vgl. mit Blick auf das Steuerverfahrensrecht und die voranschreitende Entwicklung von Algorithmen und künstlicher Intelligenz etwa Johann Bizer, Bestandsaufnahme und Perspektiven der Digitalisierung im Steuerrechtsverhältnis aus Sicht der Verwaltung, in: DStJG 2019, S. 135 ff., S. 140.
67 Drüen 2019, S. 198; Seer 2008, S. 11 ff.